DEN BLICK FÜR DAS GANZE WIEDERFINDEN

Veröffentlicht 4/2014

Mich fasziniert Kalligrafie, weil sie mir etwas sagt, obwohl ich nicht weiß was sie sagt. Eben das sagt sie mir, dass es mehr gibt als das Wissen. Diesen Blick für das Nicht-Wissen haben wir verloren, weil wir der Logik folgend Wissen als Macht betrachten, die das Nicht-Wissen eliminiert. So verfallen wir der Hybris die Summe aller Fakten sei das Ganze und glauben es liege als Resultat in unseren Händen. Mit Nichten. Das Ganze ist das All-Wissen, das weder ein Mensch noch die Menschheit, weder Google noch der Algorithmus oder “Big Data” weiß, weil ein Teil und mehr ist die Menschheit samt ihrer Technologie nie, nur ein Teilwissen hat. So ist und bleibt die Begegnung mit dem Ganzen, was immer der Mensch auch erfindet, ein Quantensprung vom “Wissen ist Macht” zum “Ich weiß, dass ich nichts weiß”

Mit anderen Worten: Das All-Wissen ist absolut und unser Verstand ist nur für das Relative gemacht, so dass das Absolute uns vor Kants berühmte Fragen stellt: “Was kann ich wissen? – Was soll ich tun? – Was darf ich hoffen?” – woraus sich die vierte Frage ergibt: “Was ist der Mensch?” – Nach meiner Überzeugung ein Suchender, der das All-Wissen nicht findet, indem er immer mehr Wissen anhäuft, sondern umgekehrt indem er vom Wissen zum Nicht-Wissen wechselt. Zu dem Wissen, das keine Unwissenheit ist, sondern das All, das wir als das Unbewusste in uns tragen…

Unsere Vorfahren nutzten dafür das Symbol, mit dem sie das All-Wissen einem Jenseits zu sprachen, dem großen Geist, der als Gott Regie führt. Mit dieser Inszenierung wurde aus dem Nicht-Wissen der Glaube an etwas Höheres und aus dem All-Wissen eine Religion, die aus dem Jenseits das Diesseits regiert. Von dieser Theologie, die Mensch und Tier, die Entwicklung des Universums dem “Willen Gottes” unterstellt rückte die Moderne ab, indem sie einerseits die “Evolution” als innewohnendes Gesetz und andererseits den “freien Willen” des Menschen postulierte, mit denen sie die Regierung des Diesseits den Religionen abtrotzte und Staat und Wissen in eine säkulare Macht verwandelte.“Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Anleitung eines anderen zu bedienen” (Kant). Das ist bis auf den heutigen Tag ein großes Wagnis und oft ein gewaltsamer Akt, weil die Kräfte, die zurück in die Zukunft wollen, sich ihm massiv in den Weg stellen. Doch das Leben kennt nur eine Richtung und die führt vom “Willen Gottes” zum “freien Willen” und endlich auch zur Aufklärung der “falsch verstandenen Aufklärung”. Denn deren Glauben der “freie Wille” sei der Weg zum All-Wissen wird ebenso zur Inszenierung, wie einst der Gott, mit der nun umgekehrten Konstellation: Dem “Gott auf Erden”

Diesen Irrtum gilt es zu korrigieren. Das verlangt von der Aufklärung den Fortschrittsgedanken vom Wachstumsgedanken zu lösen und dabei nicht in die Symbolik der Metaphysik zurück zu fallen. Nichts wächst bekanntlich in den Himmel, weil der evolutionäre Fortschritt ein Kreislauf ist und kein lineares Wachstum, wie die Moderne sich ihren Fortschritt denkt. Die Metaphysik hat im Gegensatz dazu die Kreisbewegung sehr genau erfasst, allein sie ist die Phantasie des Anfangs, mit der der Mensch in der Natur Einklang mit ihrer Übermacht gefunden hat. Der Städter hat ein ganz anderes Problem zu lösen: Er braucht eine Phantasie des Fortschritts, die ihn von der Hybris des Übermenschen befreit…

Die Antwort der Kunst lautet: De-Konstruktion. Indem das Große wieder auf das Kleine zurückgeführt wird, mit dem wir das Ganze sehen. Lautet: Meditation. In der der Geist uns weder als Gott noch als Teufel, als “verrückter Affe” erscheint, den niemand berechnen kann. Lautet: Tanz oder Spiel. In denen der Mensch entdeckt, dass er der Natur weder erlegen noch überlegen, ihr bewusstes Segment ist. Denn Natur und Kultur, Immanenz und Transzendenz geben sich im Menschen die Hand. Ja, dieses ungleiche Paar ist das Klatschen einer Hand. Wie das? Lernt die Hand das Malen oder Schreiben übernimmt die gelenkte Linienführung, der Duktus mit “k” die Hand. Nun begrenzt die Form das Spiel. Doch nicht die Handschrift. Der spontane Verlauf der Linie, der Ductus mit “c” bleibt prägend. Das heißt der “Sieg” über die Natur ist immer ein Papyrussieg, die Transzendenz des Lebens ist von keiner wie auch immer gearteten Immanenz in den Griff zu bekommen…

Eben dieses Phänomen haben die Kalligrafen sich zu eigen gemacht, indem sie den spontanen Verlauf der Linie, den Ductus mehr betonen, als die gelenkte Führung, den Duktus. So entstehen ihre transzendenten Schriftbilder aus tanzenden Buchstaben oder Silben, besonders zu bestaunen in der arabischen und chinesischen Kalligrafie. In der abstrakten Malerei ging die Fraktion, die aus derécriture automatique”, dem automatischen Schreiben der Surrealisten hervorging – Abstrakter Expressionismus (Pollock…), Informel (Götz…), Tachismus (Michaux…) – noch einen Schritt weiter und gestaltete das Bild nur noch mit dem spontanen Ductus. Sie nannten dieses Malprinzip denkontrollierten Zufall”

Diese Vorbilder liegen meinem NICHTNICHTBILD zu Grunde, das nicht-gegenständlich, nicht-abstrakt, wie im mündlichen Gespräch den spontanen Ductus existentiell als Gebärde direkt und unmittelbar auf die Bildfläche bannt. So verwandelt mein Bild das kulturelle Vorbild wieder in ein existenzielles Vor-Bild: In die vegetative Essenz der Sprache, die sich nicht aus der Schönheit des Gedacht-Gemachten ergibt, sondern aus der Erhabenheit des Organischen. “Erhaben ist, was auch nur denken zu können ein Vermögen des Gemütes beweist, das jeden Maßstab der Sinne übertrifft” (Kant). Es zeigt den Logos der Vertikalspannung, bevor dieser in die Logik der Horizontalspannung eingetreten ist. Dieses Bild ist weder ein Kunstobjekt noch ein Kunstsubjekt, es ist die Kunst vor der Kunst – das Nobjekt. Oder wie Picasso formulierte: “Man muss etwas finden, das sich selbst entwickelt, etwas Natürliches, nichts Hergestelltes, damit es sich entfalte nach den Formen des Natürlichen und nicht nach den Formen der Kunst”

Für diese in meiner Arbeit existenziell vollzogene Übung nutzten unsere Vorfahren, wie gesagt das Symbol, auf das der Mensch nicht mehr zurückgreifen kann, wenn er den Gott aus dem Himmel geholt hat, sprich aufgeklärt ist. Der Grund dafür ist die Umkehr der Vertikalspannung. Aus dem Von-oben-Angesprochen-sein” wird durch Aufklärung das Von-unten-Aufgerichtet-sein”, das auch Transzendenz mit den Ergebnissen der Selbstreflexion erklärt. Was von-oben-angesprochen Götter und Engel waren, sind von-unten-aufgerichtet Sinne und Synapsen, die im Gehirn Vernetzungen bilden. Die kleine Welt des Gehirns reproduziert dabei die große Welt des Universums. Ist dieses Netzwerk des Geistes auf die Handlungsneuronen fixiert, bildet es im Rahmen der Selbsterfahrung die Identität, postuliert es das berühmte Ich denke, also bin ich”. Das “Wissen ist Macht”, mit dem der Mensch sich die Erde untertan macht. Die “falsch verstandene Aufklärung”

Vernetzen die Synapsen hingegen Spiegelneuronen überschreitet der Geist die Ich-Bezogenheit von Wissen und Denken, entdeckt er im Nicht-Wissen Freiheit, Ewigkeit, Universalität, in der Transzendenz das Mitgefühl für den Anderen, das Andere – Ich liebe, so bin ich ganz”. Mit diesem Denken des Nicht-Denkens” sind wir mehr als nur Ich und erliegen nicht mehr der Hybris ein Teil könne das Ganze beherrschen. Endlich kehren wir als Teil zum Ganzen zurück, oder heben mit Kants Worten, “habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen”, das Wissen auf, “um zum Glauben Platz zu haben”. Dabei fühlen wir uns, wie kann es anders sein – ganz. Endlich wird aus Zufriedenheit wieder Glück…

Es ist der Glaube – die Fähigkeit das Wissen zu überschreiten – die den Berg versetzt und nicht der Gegenstand des Glaubens, “kein Gott, kein Kaiser noch Tribun”, kein Wissen, kein Paradies, keine Hoffnung, kein Geld, kein Fortschritt. Es ist das nackte Vertrauen in das Erhabene, in das immaterielle Nicht-Wissen-Können, das den Berg der Ohnmacht in Kraft verwandelt und damit das Schicksal wendet. Zunächst begegnet uns das Erhabene als Schock, schiebt sich das Nicht-Wissen als grauer Vorhang der Angst, “horror vacui” hat Kant ihn einmal genannt, vor den Glauben an das Materielle und Ideelle, beendet es die Inszenierung der Immanenz. Die Summe unserer Selbsterfahrungen, das Wissen-Können und der Etwas-Glaube danken ab, sie haben uns nichts mehr zu sagen. Das tut weh, wie sollte es anders sein, um so mehr, je mehr der Mensch weiß und an etwas glaubt. Doch dann siedelt die Aufmerksamkeit um, vom angelernten Lernen aus dem Etwas, zum organischen Lernen aus dem Nichts und plötzlich ist der graue Vorhang weg, hat er einem neuen Bewusstsein Platz verschafft. Wie immer wir die Transzendierung des Denkens durch den Glauben an das Nicht-Wissen-Können auch nennen – Liebe, Weg, Meditation, Hingabe oder Ekstase – für das Leben vor dem grauen Vorhang, für die Ich-Bezogenheit des Denkens ist das Erhabene schlicht Nichts, mit dessen Augen wir das Ganze sehen…