Der „Nousletter“ ist auch ein „Newsletter“, doch seine „News“ sind „Nous“, altgriechisch: nonverbale Vernunft, geistiges Sehen, das innere Organ für Wahrheit.
I.
II.
Yang, „mein Chinese“, bei dem ich seit der Jahrtausendwende Reispapier, Tusche und Pinsel kaufe, der selbst Kalligraf ist und meine Arbeiten kennt, sagt immer zu mir: „Du hast China verstanden!“ Erstaunt schaue ich ihn an und sage: „Du weißt, ich war noch nie in China und kenne die Schriftzeichen nicht!“ „Du denkst in Bildern,“ lautet dann kurz und knapp seine Antwort. Und wie ein Chinese in Bildern denkt, erfahre ich, wenn er meine Arbeiten betrachtet. Yang fragt nicht: „Was soll das sein?“ Oder sagt nicht sich entschuldigend: „Für mich ist das, das …“ Er, der das Denken in Bildschriftzeichen erlernt hat, greift selbstbewusst nach meinen Artefakten und sieht in ihnen Drachen, Pferde, Mönche, Krieger. Während Berliner Freunde, die in abstrakten Zeichen sozialisiert sind, vor spontanen Strichen stehend sich verunsichert fragen: Was will der Künstler uns damit sagen? „Was für uns „abstrakt“ und unsichtbar ist, ist für den Chinesen sinnbildlich konkret und sichtbar gegeben in der Schrift, so etwa, wenn das Bild zweier verschränkter Hände den Begriff der Freundschaft darstellt. Er denkt in Bildern und nicht in Worten. Und dieses Denken in Bildern bleibt immer konkret, es kann gar nicht diskursiv sein, eine geordnete Gedankenkette durchlaufen. Es kann auch nicht von sich selbst Rechenschaft geben; die Antwort auf die typisch sokratische Frage, was Freundschaft sei, ist sichtbarlich vorhanden und deutlich in dem Sinnbild der beiden vereinigten Hände.“ (2). – „Was uns von den Chinesen unterscheidet, ist nicht Nous, sondern Logos, daß wir uns in Worten Rechenschaft ablegen und rechtfertigen müssen.“ (3). Hannah Arendt greift hier auf eine Definition des Aristoteles aus seinem „Protrepikos“ zurück: „Das Wesen ist geordnet gemäß Nous und Logos“, nach der der „Nous“ das ist, was Kant die „reine Vernunft“ nennt und der in freier Rede ermittelte „Logos“ die „praktische Vernunft“. Doch der „Logos“ wird seit Platon nicht nur in freier Rede aus der Hermeneutik des Spontanen ermittelt, er ist durch die festgelegten Zeichen des Alphabets ein fixierter Logos geworden, der sich an der Logik der Grammatik orientiert, den Gesetzen einer rationalen Ökonomie folgt und nicht mehr den Ekstasen der Ökologie. So fällt die in freier Rede vorgetragene und von Platon im „Zwiegespräch über die Redekunst“ im „Phaidros“ verschriftlichte Kritik des Sokrates auch noch schärfer aus: „Denn wer dies (das Alphabet) lernt, dem pflanzt es durch Vernachlässigung des Gedächtnisses Vergeßlichkeit in die Seele, weil er im Vertrauen auf die Schrift, von außen her durch fremde Zeichen, nicht von innen heraus sich selbst die Erinnerung schöpft. Nicht also für das Gedächtnis, sondern für das Erinnern erfandest du ein Mittel. Von der Weisheit aber verleihst du deinen Schülern den Schein, nicht die Wahrheit.“ Das Alphabet – vergleichbar das Digitale – eignet sich nach Sokrates bestenfalls als Gedächtnisstütze, die das Erinnern stärkt, doch nicht zur Herausbildung des Gedächtnisses, nicht zum geistigen Sehen. Denn das setzt das unmittelbar, direkte Erleben lernen aus der Erfahrung voraus. So wurde also schon vor über 2000 Jahren thematisiert, was wir heute als copy and paste diskutieren. Die permanente Abrufbarkeit externer Informationen bildet kein unabhängiges, intrinsisch dynamisches Wissen. Das kann nur aus dem geistigen Sehen heraus, aus dem „Nous“ durch den „Logos“, aus „Karuna“ durch „Veda“ geschehen.
III.
„Die verborgene Harmonie ist stärker als die offenkundige“, beobachtete schon 520 bis 460 v. Chr. der griechische Philosoph Heraklit. Was immer auch offenkundig geschieht, der „Nous“, der innewohnende Geist setzt sich durch. Doch das geschieht nicht von heut auf morgen, er braucht eine längere Zeitstrecke und so dominiert zunächst die „offenkundige Harmonie“ der „praktischen Vernunft“. In der modern digitalisierten, privatwirtschaftlich organisierten liberalen Welt genauso wie in den autokratischen, militärisch verfassten Gesellschaften in Russland oder China. Es ist „das System“, ob kapitalistisch oder sozialistisch, welcher Prägung auch immer das den „Nous“ zur Steinzeit degradiert. Die „reine Vernunft“ lehrt uns Müll zu vermeiden, Rohstoffe wiederzuverwerten, das Hergestellte zu reparieren. Die „praktische Vernunft“ sagt das Gegenteil und produziert Müll und Gewinn, die es beide in der Natur nicht gibt. So ist im modernen Denken die „reine Vernunft“ Steinzeit, die sich noch an den Sternen orientierte, während der Moderne in einer anderen, vom Menschen erschaffenen Zeit lebt, die der „ökonomischen Vernunft“ folgt. Er glaubt, dass er vom „Indigenen“ das „Geniale“ abgespalten hat, mit ihm das durch „Nous“ und „Logos“ Geprägte als „Vor-Moderne“ hinter sich gelassen hat, sodass in der „Moderne“ digitalisiertes Wissen die gelebte Weisheit ersetzt und die Logik der „technischen Vernunft“ Sicherheit und Ordnung verleiht. So stützt sich die aktuelle digitale Globalisierung weder auf die Herrschaftsfreiheit der vorbegrifflichen Vernunft noch auf die Demokratie des in freier Rede begrifflich gefassten. Mit ihr hat sich der „politische Westen“, die „regelbasierte Welt“, wie sich die liberalen Demokratien gerne nennen, selbst ein Kuckucksei, ein zweischneidiges Schwert ins Nest gelegt. Einerseits taugt es wie kein anderes Instrument zur Globalisierung und Individualisierung liberaler Werte, und zugleich wird es als Weltmonopol, als Verschwörung der Big Five (Apple, Facebook, Google, Microsoft, Amazon) gegen das Individuum erlebt, das sich wiederum mit Verschwörungstheorien dagegen verschwören kann und sich dabei Robin Hood gleich als Rächer der Entrechteten fühlt im Glauben, das Schwert der Globalisierung zumindest daheim am eigenen Rechner umgedreht zu haben … Denn unter der Herrschaft des Digitalen ist das Wahre nicht mehr die Übereinstimmung von Sein und Schein, sondern das Datum, die „Echtzeit“, in der der Schein das Sein, die Information, die Wirklichkeit überholt und so ihrerseits eine neue Wirklichkeit erschafft. Diese Selbstherrlichkeit des Digitalen entspricht dem feudalistischen Herrschaftsverständnis von Autokratien, wird in China effizienter als Staatsordnung und von Russland zur hybriden Kriegsführung mit Desinformationen und Verschwörungstheorien eingesetzt. So suggeriert die Digitalisierung dem Individuum eine „freie Welt“, in der die Freiheit verraten und verkauft ist, weil die Freiheit „von etwas“ noch keine Freiheit „für etwas“ ist. Frei ist Freiheit erst, wenn sie ihr Ja nach dem Nein gefunden hat und damit die Welt nicht mehr verbessern muss, weil sie jetzt das Bessere in der Welt ist.
IV.
Warum enden Utopien als Dystopien? Weil es weder einen Schöpfer noch eine Schöpfung aus dem Nichts gibt. Die Utopie ist aber genau das, die andere Welt aus dem Zauberhut und wird zur Dystopie, wenn das Ideal auf das Material trifft. Dann wird aus dem Heil das Gegenteil. So kippt bereits die Schöpfungsgeschichte in der Bibel mit dem „Sündenfall“ von der Utopie in eine Dystopie. Die Protagonisten werden aus dem Paradies vertrieben und auch der Schöpfer aus dem Nichts, der sich, weil ihm langweilig war, ein Universum erschafft, ist ein Idealist, der zum Despoten wird, wenn die Geschöpfe sich nicht an seine Schöpfung halten. Man denke nur an die Kreuzzüge, Folter, Inquisition und Heiligen Kriege, die von den Religionen in die Welt gebracht wurden und für Despoten wie Napoleon, Hitler oder Stalin (Putin) das Vorbild waren (sind), um Gott gleich zu herrschen. Sodass selbst der gottlose Kommunismus, der es besser machen wollte, indem das Sein das Bewusstsein bestimmt und die Kollektivität die Individualität ersetzt, zur Diktatur entartete … Denn die Utopie ist kein Geschenk des Himmels, sie ist die irdische Sehnsucht nach ihm. Sie ist die Sehnsucht der sich in den gemeinen Verstand verirrenden Männlichkeit, die es nicht ertragen kann, dass der Same der Frau ein Weiterleben in einem anderen Körper schenkt, während der Erzeuger seine körperliche Vergänglichkeit nur geistig überwinden kann. So glaubt die vom Neid auf das weibliche Geschlecht ausgelöste Angst vor Tod und Chaos, dass der patriarchale Hass auf das Wilde im Weib der Himmel auf Erden ist. So ist die Vernunft nicht nur „rein“ und „praktisch“ nicht nur die Herrschaftsfreiheit des nicht-begrifflichen „Nous“, der in freier Rede die Demokratie den begrifflichen „Logos“ hervorbringt. Sie ist auch „gemein“, der „gemeine Verstand“, der das zum Begriff Begriffene alltäglich wendet und dabei eine „mechane“, eine Technik entwickelt, die die alten Griechen den „Betrug an der Natur“ nannten. Denn ihre Präposition im Umgang mit der Wahrheit war noch von einer matriachalen Kultur geprägt die durch Naturbeobachtung Evidenz erlangte. Nach der Verschriftlichung des Denkens durch die Griechen wechselt im Römischen Reich die Erkenntnis der Wahrheit von der Beobachtung zur Spekulation, die als Projektion durch Berechnung Evidenz erlangt und als These Gewinn verspricht. So folgen wir heute dem „Primat der Ökonomie“, denken wir die Wahrheit empirisch übersetzt in Zahlen, Formeln, Programmen, deren Logik inzwischen von Maschinen präziser ausgelesen wird die sich mit Algorithmen selbst programmieren. Kurzum: Mit der Französischen Revolution ist formal das „Menschenrecht“ real das Rechnungswesen zur neuen Weltordnung geworden, und mit der russischen Revolution wurde der Beweis erbracht, dass der Staat nicht abstirbt, wie Marx es glaubte, als Gewaltmonopol sich zur Diktatur entwickelt. Kein System, weder der Kapitalismus noch der Sozialismus ist in der Lage, den Quantensprung von der Ökonomie zur Ökologie und damit von der einseitigen Logik zur allseitigen Hermeneutik zu vollziehen, weil der „Skandal der Vernunft“, wie Kant ihn einst nannte, noch immer darin besteht, dass die vom Menschen aus der Natur herausgelesenen Gesetze, „Naturgesetze“ heißen, obwohl die Natur sie weder gemacht noch geschrieben hat und sie das Gegenteil dessen, ein „Stirb und werde“ und kein „unendlicher Fortschritt“ ist. So ist auch die KI weder dumm noch nutzlos, sie ist hirnlos.
V.
Es ist also an der Zeit, das alte, beobachtende Verständnis von Wahrheit, das es nicht nur in der griechischen Antike als Mimesis weltweit gab, neu zu sehen. Wir Heutigen können aber dabei nicht stehen bleiben, wir müssen es auch im Handeln und Urteilen in die Tat umsetzen. Erst dann ist das was das absichtslose Tun der Evolution prägt, das „Nicht-Wollen wollen“ das als Lebenswille „nur“ sich selbst das Leben leben will und als Wachstum die Selbstentfaltung dessen kennt, auch die Wahrheit und der Sinn des menschlichen Handelns. Das geschieht weder strategisch noch taktisch, weder militärisch noch technisch, sondern spontan, leibhaftig und lebendig. Nicht indem wir den Kampf zwischen Archaik und Moderne ausrufen, wie es Putin und seine Querdenker tun, nicht indem wir die Erscheinung, das, was nicht in unseren Händen ist – die Welt – verbessern, sondern indem wir das Sein, uns, unsere Haltung in ihr und ihr gegenüber verändern. So ignoriert die „reine Vernunft“ die „praktische Vernunft“ als Leitkultur und beginnt damit eine neue Erzählung: Nach dem patriarchalen „Willen zur Macht“, der den Willen Gottes auf Erden in den säkularisierten Willen der Menschen verwandelt hat, gebiert nun das „Nicht-Wollen wollen“ den Sinn, indem das bis in den Tod hinein geboren werden über das Sterben siegt. Ja, diese Erzählung ist ohne Macht, doch sie ist nicht ohnmächtig. Sie ist die spontane Antwort, die dem Leben innewohnt und damit unsterblich. „Wenn jeder gedankenlos mitschwimmt in dem, was alle anderen tun und glauben, dann stehen die Denkenden nicht mehr im Hintergrund, denn ihre Weigerung ist nicht mehr zu übersehen und wird damit zu einer Art Handeln. In solchen Notlagen erweist sich, dass die ausräumende Seite des Denkens (die sokratische Hebammenkunst, die die Konsequenzen ungeprüfter Meinungen herausarbeitet und diese – Werte, Doktrinen, Theorien und sogar Überzeugungen – dadurch zerstört) mittelbar politisch ist. Denn die Zerstörung wirkt befreiend auf ein anderes Vermögen, das Vermögen der Urteilskraft, das man mit einiger Berechtigung das politischste der geistigen Vermögen des Menschen nennen kann. Es ist das Vermögen, das Einzeldinge beurteilt, ohne sie unter allgemeine Regeln zu subsumieren, die sich lehren und lernen lassen, bis sie zu einer Gewohnheit werden, die sich dann durch andere Gewohnheiten und Regeln ersetzen läßt.“ (Hannah Arendt)(4). So ist das Wort „Vernunft“ ein eingefrorener Gedanke, den das Denken auftauen muss, wenn es vernünftig werden will.
VI.
„Seit Hegel und Marx wurde diese Frage aus historischer Perspektive behandelt, und man ging davon aus, dass es so etwas wie einen Fortschritt der Menschheit gebe. Letzten Endes werden wir vor der einzigen Alternative stehen, die es hier gibt – entweder sagt man mit Hegel: Die Weltgeschichte ist das Weltgericht und überlässt das letzte Urteil dem Erfolg, oder man besteht mit Kant auf der geistigen Autonomie des Menschen und ihrer Fähigkeit, sich unabhängig davon zu machen, wie die Dinge nun einmal sind oder geworden sind.“ (5). Als Hannah Arendt am 4. Dezember 1975 plötzlich stirbt, ist der zweite Band „Das Wollen“ von ihrem Vermächtnis: „Vom Leben des Geistes“, gerade fertiggestellt. Den ersten Band „Das Denken“ hatte sie zuvor schon 1973 und „Das Wollen“ 1974 in kürzerer Fassung an der University of Aberdeen referiert. Den dritten Band „Das Urteilen“ konnte sie hingegen nicht mehr schreiben, es gibt nur erste Skizzen. Doch das Denken von Arendt reicht weit über ihre Zeit hinaus. Es erscheint uns heute so, als hätte sie „unsere Fragen“ bereits mitgedacht und neue Antworten gefunden, indem sie das philosophische Denken vom totalitären Denken, vom Idealismus der Metaphysik und dem Materialismus der Physik befreit. Denn in beiden Denkmustern steckt das Totalitäre in Gestalt einer „Zwei-Welten-Theorie“, die das materielle, körperliche Sein von dessen geistiger Erscheinung in zwei Welten trennt, weil sie vom Tode und nicht von der Geburt aus denkt. Im Tod oder Labor ist/wird die Erscheinung, der Geist, vom Sein, dem Körper getrennt. So bekommt die Erscheinung ein ewiges Leben, weil sie körperlich nicht mehr stirbt. So überlebt die Weisheit das Wissen, überdauert der Gedanke den Denker, der Geist den Körper, denken wir heute noch über Gedanken nach, die vor vier- oder fünftausend Jahren gedacht wurden, als die menschliche Zivilisation begann. Doch alle diese Formeln, Gedanken wurden vom Leben und nicht vom Tod hinzugefügt, sodass es absurd und totalitär ist, vom Tode und nicht von der Geburt aus zu denken. Denken wir von der Geburt, von der „Natalität“ aus, wie Arendt es fordert, sind das „Sein und die Erscheinung dasselbe“. Dann ist alles, was existiert, notwendig materiell, körperlich, feinstofflich Sein und damit für das wahrnehmende Wesen dessen Da-Sein in einer geistigen, spirituellen seelischen Erscheinung. So ist der Gegensatz zwischen der geistigen und körperlichen Welt kulturell gemacht und nicht existenziell gegeben, ist er menschliches Denken und Handeln, sodass wir diejenigen sind, die die Trennung von Mensch und Natur fortsetzen oder beenden können, müssen wenn die Menschheit überleben soll.
VII.
So hat der Mensch, wenn er morgen noch leben will, im Angesicht der ökonomischen, ökologischen und geopolitischen Krisen, nur mit Kant die Alternative zur „geistigen Autonomie“ zurückzukehren. Mit „reiner Vernunft“ muss die Wachstumsproduktion sämtlicher Konflikte gestoppt werden, in die uns die „praktische Vernunft“ der „berechenbaren Wahrheit“ geführt hat. Sodass wir in dieser Frage ganz grundsätzlich auch mit Kant in einen Widerspruch geraten. Denn er, der die „reine Vernunft“ so klar gesehen und beschrieben hat, versucht sie in der „praktischen Vernunft“ zu retten, indem er diese moralisch einhegt: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ Dahinter steht die Überzeugung, dass das Gute ein „allgemeines Gesetz“ ist, das Böse es aber nicht sein kann, „Du sollst nicht töten“ wird allgemein akzeptiert, „Du sollst töten“ hingegen nicht. Tatsächlich erreicht der „kategorische Imperativ“ mit seinem „allgemeinen Gesetz“ aber genau das Gegenteil. Es gibt das „Allgemeine“, „Eine“, „Ganze“ ja „Gute“, auf das sich alle beziehen können und alles bezieht, doch was das ist, wissen wir nicht. Denn wir sind ein Teil dessen, was wir verstehen wollen und ein Teil kann bekanntlich das Ganze nicht erkennen. So können wir mit Aristoteles nur sagen, dass das Ganze mehr oder etwas anders ist als die Summe seiner Teile, nämlich ganz, doch was das Ganze oder Allgemeine ist, bleibt ewig unsagbar stets eine Behauptung, die auch die rationale Aufklärung nur mit Gewalt autorisieren kann, weil sie sich nicht von selbst ergibt. Das Problem der rationalen Aufklärung ist, dass sie den Irrtum der Religionen lediglich säkularisiert und nicht aufgehoben hat. Kant gibt als Leitsatz der Aufklärung das „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“ aus und sagt damit, dass der Verstand, von dem der Kirchenvater Augustinus zuvor noch gesagt hat, dass er „Gott“, der „Heilige Geist“ sei, aufgeklärt „deine Freiheit“ ist. Die Begründung ist dabei in beiden Fällen gleich: die Evidenz des Verstandes, bei Kant „das Allgemeine“ und bei Augustinus das „Eine und Ganze“. Beide berufen sich auf das Intelligible, das den Sinnen unsichtbar dem Verstand als Ganzes einleuchtet. Doch beide verwechseln dabei das Spiegelbild mit der Realität. Denn der Verstand spiegelt in der Tat die Realität wider, doch er kann sie so wenig wie der Spiegel verstehen oder kreieren. Das kann nur der lebendige Geistkörper vor dem Spiegel, indem er vor-bildlich handelt, bevor er das Bild kennt, das ihm der Spiegel zeigt. Nur dann ist der Maßstab die „Universalharmonie“ in der „alles, was ist, wenn man die Gesamtheit der Dinge betrachtet, das Beste ist“ (Nietzsche).
VIII.
„Wo sind wir, wenn wir denken?“, fragt sich Hannah Arendt und antwortet „in der Lücke zwischen Vergangenheit und Zukunft“. Exakt in dem Riss, mit dem wir aus der Moderne herausfallen und in der Alten Welt – der Natur in uns – ankommen. Die Alte Welt erscheint uns heute als die bessere, weil in ihr das „Stirb und werde“ vorgegeben, noch nicht in der Verantwortung des Menschen lag. Das Leben war kurz. So kurz, dass man nur das Jetzt, die sich ausdehnende Gegenwart als Raum kannte und ihn noch nicht als Zeit begriff. Dieses Erleben einer anderen Wahrheit ist im Fortschritt abhandengekommen und eben dorthin kehrt das Denken zurück, in ein Jetzt, das kein Hier hat. Nicht mit dem oberflächlichen Vergleich, bei dem der gemeine Verstand in „Echtzeit“ über „Sein und Nicht-Sein“ entscheidet. Das geistige Durchdringen einer Sache oder Frage verlangt Tiefe, ist nur möglich, wenn der Gedanke sinn- und raumleer wird. Sodass das Denken wie ein Shuttle im Hier startet, das Jetzt verlässt und durch Jahre, Jahrhunderte, Jahrtausende den Gedanken verfolgt und im Hier und Jetzt wieder landet. Dabei gehört der Gedanke keinem, es gibt nur Menschen, die ihn zuerst aussprechen. Diese absolute Freiheit der Assoziation kennen alle, doch der „gemeine Verstand“ gestattet sie nur den Auserwählten, den Gebildeten und Erleuchteten und nicht sich selbst. Denn im vergleichenden Denken ist immer der andere, das andere, besser als das Selbst, triumphiert das hinterher über das jetzt, siegt der Tod über das Leben. So denkt der „gemeine Verstand“ nur, dass er denkt. In Wirklichkeit lässt er denken, muss er sein „Über-Ich“ fragen, das er kopiert. Aus dieser Verhaftung entbindet sich das selbstbewusste Denken und stellt sich mit seiner Urteilskraft außerhalb der vorgegebenen Ordnung auf, um in der „Liebe zur Wahrheit“ neue Bindungen einzugehen.
IX.
Und wo bin ich, wenn ich male? Da bin ich wie im Denken „in der Lücke zwischen Vergangenheit und Zukunft“, doch obwohl am Tage und hellwach im Traum der Nacht. Denn nun ist vom „Raum-Zeit-Kontinuum“ die Zeit ausgeblendet. Der Geist hat kein Fernweh mehr und stellt sich der „Raum-Leere“ im Hier und Jetzt. Denn die Leere, die wir nur als Raum erfassen können und der Raum, den wir nur erfassen können, indem wir ihn in einen Gegenstand verwandeln, stehen nun als leere Leinwand vor mir. Als große Weite, die sie immer sind und auch in Gestalt eines Bildes bleiben sollen. Es ist tatsächlich so, dass mich entweder das Gefühl von Raum oder Leere zum Malen zwingt. Picasso hat die Abkehr vom „Ausdruck“ vom arbeiten „nach der Natur“ hin zum „Eindruck“ zum Arbeiten „vor der Natur“ mit einem Schwamm verglichen, der durch „geistiges Sehen“ vollgesaugt ist. Das geistige Sehen zwingt zum Bild. Wer hier was fordert das Bild einen Maler, der Maler das Bild, wird nun immer unklarer. Es kann auch sein, dass jetzt tagelang nichts passiert oder heute Nacht schon alles. So entstehen körpersprachliche Bilder, die mehr sind als die Summe ihrer Teile, die ein intelligibles Ganzes zeigen. Ist das geistige Bild zum Greifen nahe, sinnlich jedoch nicht gegenwärtig, berührt der flüchtige Gedanke den nicht flüchtigen Geist und hat dabei eine Ahnung vom Ganzen. So stabilisiert das Unvergängliche der Existenz das Vergängliche, denn deren intelligible Art ist nicht nur sie selbst: „L’art pour l’art“, etwas anderes: „Nous“ – reine Vernunft.
X.
Bleibt die Frage: Wo bin ich in der Meditation? Auch da bin ich „in der Lücke zwischen Vergangenheit und Zukunft“, doch nun ist sie kein Riss mehr, jetzt ist sie die sich ausdehnende Gegenwart. Das geschieht, indem der Atem das „Sich-Selbst-Gewahrsein“ wird und damit den Geist aus seiner alltäglichen Einhegung in Raum und Zeit herausholt. Absichtslos ist der Übergang vom „Ich“ zum „Es“, indem das bewusste „Ich atme ein – ich atme aus“ sein „Ego“ vergisst und zum bewussten „Es atmet mich“ wird. Das ist kein Hokus pokus, das ist alltägliche und vor allem nächtliche Realität, doch nun ist sie auch dem Tag-Ich bewusst. So hebt das Nacht-Ich oder Es die Einseitigkeit, mit der das „Ego“ das durch die transparente Haut Wahrgenommene zum „Ich“ abgrenzt auf, und das, was tatsächlich ist, tritt bewusst hervor: Unsere Intersubjektivität. Jetzt sind es nur noch wenige Atemzüge und die Intersubjektivität ist das „Zwei-in-einem“, wie Sokrates es nannte, das „Sich-Selbst-Gewahrsein“ (Arendt), dass das Wir/ich unbewusst schon im Mutterleib war und das ganze Leben bis in den Tod hinein immer ist und bleibt, das nun auch als Selbstwirksamkeit bewusst ist. Mit diesem Moment ruht der Geist in sich und der wahrnehmende Körper in ihm. So gibt die vorbegriffliche Vernunft „Nous“ uns die Haltung, die wir brauchen, um aus eigener Urteilskraft verantwortungsvoll in der Welt zu sein. So bewahrt allein der „Nous“ uns vor der „Weltverbesserung“, die mit praktischer Vernunft das andere den anderen verändert und sich selbst dabei über den anderen, das andere erhebt. So ist die tatsächliche „Zeitenwende“ ein Flüstern, das durch den Lärm der Geschichte gerade überdeckt wird: Das radikale Umdenken und Abwenden vom „Weiter so!“, das darin besteht, dass alle, die ihre Lage erkannt haben, ihre Ohnmacht verlieren, indem sie das ohne Macht sein als ein Bewusstsein erleben, das die Macht der Waffen unterläuft und dem „Weniger ist mehr“ den Boden bereitet.
(März/April 2022)
Literaturnachweise:(1) Hannah Arendt, „Vom Leben des Geistes – Das Denken“, Piper/München, 10. Auflage 2020, S.190, „Was bringt uns zum Denken? – (2) ebenda, S. 106 „Geistige Tätigkeiten in einer Welt der Erscheinungen“ – (3) ebenda, S.106 – (4) ebenda, S.191 „Was bringt uns zum Denken?“ (5.) ebenda, S.211/12 „Nachschrift“
Bildnachweise: I „KIEW“, II „CHARKIW“ (Bodytext Acryl), III „Ukraine a“, IV „Ukraine IX“, V „Ukraine f“, VI „Ukraine I“, VII „Ukraine e“, VIII „Ukraine II“, IX „Ukraine h“, X „Ukraine VII“ (Bodytext Cinatusche)