Mein Blick auf die bildende Kunst durchläuft drei Phasen, die sich evolutionär augenblicklich wiederholen: Mythos, Abbild, Spiel. Zunächst bringt die Erfassung der Wirklichkeit aus dem Unbewussten die Ahnung und aus ihr den Mythos hervor. Er ist und bleibt immer die Basis der Imagination, auch für den aufgeklärten, bereits abstrakt denkenden Menschen. So hat historisch der Mensch das Bild, das uns als Ahnung vor dem inneren geistigen Auge erscheint, sinnbildlich auf Felsen und Höhlenwände gemalt. Sie zeigen weder ein Gegenüber noch eine Idee von ihm. Wir sehen ein mittendrin im Wesen der Art, dem Charakter. Aristoteles wird diesen Teil der Erscheinung, ihr Vorbild, ihre wichtigste Phase, bevor sie sich im Dasein als geistige Gegenüberstellung, als Idee, Vergleich, Abstraktion, Konzept manifestiert und in ihnen verloren geht, als Gegenpart zu Platos absoluter Idee später Eidos nennen. Denn aus dieser Perspektive der wilden Semiotik sind in der mündlichen Überlieferung die Mythen, Märchen, Sagen reflektiert mit schriftlich geregelter Semiotik die Religionen hervorgegangen. Weil der Mensch die wilde Semiotik der Natur und seines eigenen Lebens für sich nur verstehen kann, indem er sich ihr aussetzt, wie Nietzsche sagte: „gefährlich lebt“ und anderen mitteilen, indem er sie in eine von ihm erschaffene Semiotik übersetzt und damit auch sich selbst vor Augen führt. Diesem Grundwiderspruch zwischen Wahrnehmen und Erleben und Verstehen und Reflektieren sind und bleiben wir grundsätzlich ausgesetzt. So lebt der Mythos, ist er das Unfassbare, das uns erfasst. Denn das menschliche Auge sieht wie wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, nicht wie eine Kamera. Es folgt der Ahnung nimmt sekundenschnell nur einen Bruchteil des Augenblickes wahr und fügt den Rest aus der Erinnerung hinzu. Sodass auch das äußere Bild, das wir wahrnehmen, vor dem inneren, dem geistigen Auge entsteht.
Diesem Weltinnenbild hat der Mensch, als es weder einen Fotoapparat noch eine Kamera gab, ja ohne perspektivisch vermessene Skizzen, aus reiner Vorstellungskraft ein aus Stein oder Marmor gehauenes Außenbild entgegengesetzt. Weil nur der chinesischen Antike die Massenanfertigung aus Ton gelang, war das wahrhaftige Gegenüber in der griechischen Antike den Göttern und später den Philosophen vorbehalten. Als schließlich in der Renaissance im zweidimensionalen Tafelbild die Massenanfertigung des Abbildes begann, da zeigte sich, dass selbst mit Form, Maß und Akribie kein tatsächliches Gegenüber, lediglich die Illusion dessen eine, wie wir heute sagen, virtuelle zweite eingebildete Natur erschaffen wird. So schrieb der Surrealist Magritte unter eine von ihm gemalte Pfeife: „Ceci n’est pas une pipe.“ (Dies ist keine Pfeife) und nannte das Bild: „La trahison des images“ (Der Verrat der Bilder). So führte der Dadaismus uns das Absurde in der Kunst vor Augen. Heute, im Zeitalter der KI leben wir in einer Zeit, in der nicht mehr die Idee mit ihr das Unsichtbare, die Dienstleistung des Sichtbaren, das Absolute ist. Mit Kopien, die dem Original zum Verwechseln ähnlich sind, erleichtert sie uns die Arbeit, indem sie das wahrnehmbare Bild der Welt manipuliert. Sodass die Manipulation der Wahrheit in die Hände aller gelegt ist, die mit dem Computer umgehen können.
Die abstrakte Kunst versuchte einst, als es noch um das gemalte Bild ging, das wieder gerade zu rücken. Ihre Erkenntnis war das Scheitern des Absoluten an der Kopie der Schöpfung und ihre Idee, die Hinwendung zum nicht gegenständlichen unsichtbaren Konzept der Schöpfung. Analog den Naturwissenschaften, die von der Naturbeobachtung mit immer neuen Instrumenten glaubten, in den „Bauplan“ der Natur vorzudringen und dabei die Selbstentfaltung der Natur ganz ohne Plan und Idee vergaßen. So zeigte das gemalte Bild immer weniger, wurde dafür aber immer heiliger. Bis auch dieses Unterfangen an sich selbst, am absoluten Nichts scheitert, auf das die reine Abstraktion notwendig zu steuert. Denn das absolute Nichts gibt es für ein in Raum und Zeit denkendes Wesen nicht. Und wenn es das gibt haben wir damit nichts zutun. So bekam das Informel seinen Platz in der abstrakten Kunst und brachte mit akademischen Weihen eine „Art brut“ (rohe Kunst) hervor. Die den Affekt, hier „Malprozess“ genannt, statt Effekt betont und bereits als Sammelbegriff für die „autodidaktische Kunst von Laien, Kindern, Menschen mit einer psychischen Erkrankung oder einer geistigen Behinderung und gesellschaftlichen Außenseitern, etwa Insassen von Gefängnissen, aber auch gesellschaftlich Unangepassten“ (Wikipedia) existierte. Der Unterschied war nun, dass in der „Art brut“ oder „Raw Art“ das Rohe existenziell echt unbewusst authentisch ist und die informelle Kunst es uns als vom freien Willen gewolltes formloses Konzept zeigt. Doch auch diese Idee scheiterte wieder an sich selbst. Denn das Bild, das auf diese Art und Weise entsteht, muss, wie Gerhard Richter es formulierte: „Mit allen Mitteln der Kunst nichts erzählen“, damit es sich selbst als Kunst erzählt. Es soll von Künstlerhand als Form mit Maß akribisch vollendet bei der Negation der Form stehen bleiben. Dergestalt stellt es sich selbst in ein absolutes Nichts und die Rezeption vor die Frage: „Ist das Kunst oder KI?“
Meine Formulierung ist, dass im Zeitalter künstlicher Intelligenz es nicht so ist, dass die Tiere und die Pflanzen wie Kant sagte, „das Andere der Vernunft“ sind. Sondern heute gehen wir in eine Zeit ein in der Menschen, Tiere und Pflanzen das Andere der künstlichen Intelligenz sind. Das heißt, wir rücken wieder mit den Pflanzen und Tieren zusammen und der Graben besteht zwischen Mensch und künstlicher Intelligenz und nicht zwischen dem Menschen auf der einen Seite und Tier und Pflanzen auf der anderen Seite.“ (Richard David Precht)
So bleibt für den Perspektivwechsel zum post abstrakten Bild „nur“ noch das „im Offenen Gehaltene“, von dem Picasso sagte: „Ich suche nicht, ich finde.“ Denn alle vom Verstand erdachten Selbstüberwindungen, die die eigene Vergangenheit durch ein zurück zur Natur oder vorwärts zum Geist hinter sich lassen wollen, scheitern am Konzept des „Übermenschen“ und dessen „Wille zur Macht“. Das bürgerliche Konzept, durch kognitive Bildung zu werden, wer wir nie waren, führt nicht zum „aus sich selbst drehenden Rad“, wie Nietzsches Zarathustra es uns glauben machen sollte. Führt nicht durch Umerziehung „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“ (Lenin) zur klassenlosen Gesellschaft. Die nur scheinbar überwundene Vergangenheit holt uns in der Zukunft wieder ein. „Die Revolution frisst ihre Kinder“. Denn das Leben kennt nur das Jetzt, in dem Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft vereint sind. Die bürgerliche und sozialistische Kälte juristisch sauber voneinander getrennter Sphären, Zeiten und Räume ist technisch im Labor möglich, lebendig, in der freien Wildbahn nicht. So kann der Mensch virtuelle Zonen erschaffen, kann sich und anderen glauben lassen er lebe in der Zukunft, bleibt dabei aber nur in der Vergangenheit stehen.
So bekommt der „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ (Kant) einen komplett anderen Sinn. Das Loslassen. Das torlose Tor als Ausgang. Denn die Bildung ist nun nicht mehr Verstand, keine durch Experten kognitiv erschaffene Fassade, hinter der die Realität sich versteckt. Bildung war, ist und bleibt immer Instinkt. Natürliche Intelligenz. Analog zum biologischen ist sie der sinnlich geistige Kreislauf, in den der Mensch bereits vor seiner Abnabelung von der Mutter hineingeboren wird. So erwächst absichtslos in ihm eine Intuition aus evolutionärem Wissen, die postnatal zur Imagination wird. Sodass jeder Mensch existentiell aufgefordert ist: „Du sollst dir dein eigenes Bild machen.“ Fließend geht aus ihm die Reflexion hervor, indem das Eingebildete sich als Abbild zeigen und behaupten muss. Nachdem auch dieses mithilfe der wissenschaftlich rationalen Aufklärung in seiner abstrakten Konzeption und Konstruktion geistig erkannt und durchdrungen ist, steuert die Moderne direkt und unmittelbar auf ihre, wie Sigmund Freud es nannte „narzisstische Kränkung“ zu. Der Geist erkennt, dass das vom ich behauptete falsch ist. Ja, dass das Ich in Descartes „Ich denke, also bin ich“ nicht nur sich den Blick des Ich auf die Wirklichkeit erkennt, die Ich-Sicht des Erkannten mit der selbstlosen Wirklichkeit verwechselt. Weil der Fortschritt in den „freien Willen“ und das den Verstand begründende Ich, wie Adorno zeigte, lediglich den „Verblendungszusammenhang“ der Begriffe erreicht. So ist das Ego des Menschen gezwungen, auch diese „narzisstische Kränkung“ zu ertragen und sich selbst die dinghafte und abstrakte Objektivität des kognitiven Denkens loszulassen. Denn der Verstand kann nur Chaos oder Ordnung, Gut oder Böse, Plus oder Minus und ignoriert mit dem Objekt bezogenen Denken die Selbstentfaltung oder Soheit, das Werden und Vergehen von Mensch und Natur.
So erinnert der Mensch nicht „nur“ sein geistiges Auge, das aus der Innenperspektive die Außenwelt erblickt. Er erlebt die selbstlose Selbstentfaltung zum Menschen, die post abstrakt eine Macht ist, die keine Macht mehr braucht. Kein neues System, keine neue Welt, kein neuer Mensch. Das Gegenteil von allem. Der Kommunismus als erste Philosophie. Als Spiel. „… Um es endlich einmal herauszusagen, der Mensch spielt nur, wo er in der vollen Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“ (Schiller). Doch selbst im Spiel können wir uns noch die Köpfe einschlagen. Das wäre jedoch kein selbstloses Spiel. Das ist der Kampf für den Kommunismus als letzte Philosophie.
(September 2023)