EIN WORT BILD ESSAY VON JÜRGEN TOBEGEN
Als „Art brut“ oder „Raw art“ definiert der europäisch amerikanische Kunstbetrieb „rohe Kunst“ und erfasst mit diesen Sammelbegriffen die „autodidaktische Kunst von Laien, Kindern, Menschen mit einer psychischen Erkrankung oder einer geistigen Behinderung und gesellschaftlichen Außenseitern, etwa Insassen von Gefängnissen, aber auch gesellschaftlich Unangepassten“ (Wikipedia). So wird die Art brut nicht in ihrer Kunst über die Biografie der KünstlerInnen verstanden, die und wie sie es geschafft haben, durch das Raster der Hochkultur zu fallen. Ihre Außenseiterkunst genügt per se nicht den Ansprüchen, sie ist „privat“, „naiv“, „Ritual“, „Kult“, „Mythos“, „Esoterik“. Geheimwissen. Mit dem das Individuum oder Kollektiv sich leibhaftig und imaginär mit den Beziehungen der Lebewesen zu sich und ihrer Umwelt auseinandersetzt. Doch dabei dem Zufall und Schicksal folgt das in und von der Hochkultur überwunden ist. Überwinden wir diesen Irrsinn und damit die Trennung von Mensch und Natur, Körper und Geist, intuitiv und reflexiv, haben wir nicht nur einen anderen Kunstbegriff, ein anderes Menschenbild vor Augen. Den ökologisch realen Menschen als Teil der Biosphäre, der Gesamtheit aller Lebewesen im Universum. Im Gegensatz zur ökonomischen Kunst der Hochkultur, die die Befreiung des weißen Mannes aus den Zwängen der Natur anstrebt, indem der Mensch seine Vergangenheit als Tier überwindet und in der Zukunft der Maschinen lebt. So glaubt die etablierte Kunst den Mythos des (absichtslosen) WuWei und (fließenden) Panta rhei durch eine „Art von Bildhauerei“ überwunden zu haben, die das absolut Wahre, Gute und Schöne als berechenbare feste Größe hervorbringt. So lautet die bis heute für den westlichen Kunstverstand einflussreiche Definition von Johann Joachim Winckelmann, die er in seinen „Gedanken über die Nachahmung“ (1756) entwickelte. Mit ihr haben wir einen intelligiblen Kunstbegriff, der Universalismus sagt und damit nicht das Universum, keineswegs den Kosmos als Lebewesen meint. Sondern den Fortschritt in das rationale mathematische Universum, das nur einer abstrakt denkenden Menschheit zugänglich ist, die glaubt, dass der Geist der Reflexion als Gesetz über und nicht als Selbstentfaltung in den Dingen lebt. Wo und was dieses externe Allwissen allerdings ist, wenn nicht lediglich das vom Verstand des Menschen eingebildete Ego, das hinterher alles besser weiß, hat uns noch niemand vor Augen geführt.
„FRÜHLINGSGEFÜHLE II“ (Ausschnitt), Chinatusche auf Reispapier
Post aufgeklärt sehen wir den Mythos mit anderen Augen. Wir sehen durch ihn die Energeia, die Tätigkeit, Tatkraft und Bereitschaft des leibhaftigen Körpers zum Handeln wie Aristoteles sie in seiner Philosophie versteht, als absichtslose und fließende, sich selbst verwirklichende Kraft im Gegensatz zur Energie die sich durch Form, Maß und Akribie extern aus in Marmor geformten griechischen Götterstatuen entfaltet. So sind wir vor dem Alphabet und der Zahlenreihe. Vor „Lineal und Zirkel“ und „Fischnetz und Schlinge“, wie es im Taoismus heißt, mit denen sich die intelligible Welt der rationalen Aufklärung über die reale Welt des Unbewussten erhoben hat. Wir sind jetzt in der oralen Tradition der Geschichten und sehen als bildliche Gestalt eine wilde Semiotik. Monogramme, einlinige Umschreibungen, die im Dialog mit dem Zufall einst der Fels- und Höhlenwände Figuren zeigen, die in freier Assoziation Menschen und Tieren gleichen. Die Schönheit steckt hier nicht im Detail, sondern im Erleben der freien Assoziation dessen, was die Welt im Innersten zusammenhält. Und das ist viertausend Jahre später nicht nur das gleiche, trotz Mikroskop und Computer genauso unerforscht. Denn auch wir modernen, rational denkenden Menschen verrichten zweidrittel unseres Lebens unbewusst. Der Mensch ist kein Roboter, hat im Gegensatz zu ihm eine unbewusste Wahrnehmung. Mit ihr kann der Mensch im All alles erleben, doch nicht wissen. Während die KI in ihrem programmierten All alles weiß, ohne es zu erleben. Sie hat keine Ahnung, sie ahmt nur nach. So entsteht, was Adorno bereits für den Begriff sah, ein „totaler Verblendungszusammenhang“, der nur durch Demut aufzulösen ist. Indem der Geist seine Projektionen loslässt und erkennt, dass er sich von den Zwängen der Natur nicht entbinden kann.
„Denn wer dies (das Handwerk der Nachahmung) lernt, dem pflanzt es durch Vernachlässigung des Gedächtnisses Vergeßlichkeit in die Seele, weil er im Vertrauen auf die Schrift von außen her durch fremde Zeichen, nicht von innen heraus sich selbst die Erinnerung schöpft. Nicht also für das Gedächtnis, sondern für das Erinnern erfandest du ein Mittel. Von der Weisheit aber verleihst du deinen Schülern den Schein, nicht die Wahrheit.“ So spricht Sokrates dem Erfinder des griechischen Alphabets Theuth ins Gewissen. Dergestalt lesen wir es in Platons „Phaidros“, denn von Sokrates selbst gibt es keine schriftlichen Zeugnisse. Er denkt und spricht in oraler Tradition.
„Es geht darum, sich dem Zugriff jenes rationalen und mechanistischen Modells zu entziehen, das die Welt erobert hat. Es hat sich als Herr und Besitzer der Natur begriffen und dabei ein verkehrtes Menschenbild durchgesetzt, unter Festschreibung des Primats der Quantität gegenüber der Qualität, des Habens gegenüber dem Sein.“ So einer der aktuell wohl bedeutendsten Denker Afrikas, der Senegalese Felwine Sarr in seinem Essay „Afrotopia“, der den Versuch unternimmt, in der oralen und schriftlichen Tradition seines Kontinents zu denken. Vom anderen Bruder im Geiste Mohamed Mbougar Sarr und dessen Roman „Die geheimste Erinnerung der Menschen“ wird noch die Rede sein.
Dergestalt verkörpern Art brut oder Raw art ein Menschenbild ohne Schrifttafeln, das den Menschen als Teil der Natur erlebt und sich nicht über sie erhebt. Aus heutiger Sicht folgen sie einer negativen Dialektik, die alles ob körperlich oder geistig immer wieder auf das Lebewesen als ein kosmisch Ganzes zurückführt. Damit ist erst Schluss, als mit Zahl und Alphabet mit abstrakten Zeichen eine festgelegte Semiotik erschaffen wird, die es dem Menschen ermöglicht, Gott gleich Geschehen zu kontrollieren und zu erzeugen. Der bis zu diesem Point of no Return nur offene und wilde Zeichen erlebende menschliche Geist, der sie und sich dabei von einem kosmischen Ganzen als Lebewesen aus- und angesprochen fühlte, muss von seinem Quantensprung in das abstrakte Erkennen derart überrascht gewesen sein, dass er darin kein menschliches Werk, wie die Bibel behauptet, einen Sündenfall gegenüber Gott sah. Woher kommt das Bild, das wir im Wahrgenommenen sehen? Woher die inneren Bilder, die nicht auf äußere Wahrnehmungen zurückzuführen sind? Woher das Wort, das sich fühlend verändert? Es liegt nahe, dass Fragen die auch nach Jahrhunderte langer Forschung nur annähernd beantwortet werden können, außerirdischen Mächten, Göttern oder einem Gott zugesprochen wurden. „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott und Gott war das Wort“ (Matthäus). Der Satz begründet nicht nur eine positive Dialektik, er macht eine monotheistische Ethik ableitbar, die Mensch und Erde einem Über-Ich unterwirft. Ein „totaler Verblendungszusammenhang“ (Adorno), der entsteht, wenn wir statt vom Begreifen vom Begriff ausgehen. So musste nicht nur die Heilige Schrift mit Feuer und Schwert durchgesetzt werden. Was die Aufklärung zu gerne „vergisst“ ist, dass auch sie mit Feuer und Schwert zeitgleich mit dem Kolonialismus zur Welt kam. Und Aufklärer wie Hegel davon überzeugt waren, dass der Afrikaner durch Sklaverei erst Mensch wird. „Denn wiewohl man im Namen der Intelligenz und der Philosophie die Gleichheit der Menschen verkündet, beschließt man in ihrem Namen auch deren Ausrottung.“ (Frantz Fanon).
Aus Sicht der oralen Tradition wird der Kosmos haptisch wie der Planet Erde als Lebewesen begriffen und ist kein vom schriftlichen Denken durch Wort und Zahl zur festen Burg versteinertes Ding. Zu dessen „Emanationen“, dem Hervorgehen, aus dem einen Lebewesen der Mensch gehört. Auch „er ist ein Lebewesen unter anderen und zugleich der Archetyp, der als Maß aller Dinge dient: des Kosmos, des Raums und der Zeit, der gesellschaftlichen Ordnung, des Profanen und des Heiligen.“ (Felwine Sarr). So folgt der Intuitive und mit ihm die universelle Kunst dem Unbekannten, dass ein Unbekannter mit dem Satz: „Du musst nichts tun, alles ist vorhanden,“ ausgesprochen hat. Denn das Vorhandene ist das körperlich geistige Universum, das im Gegensatz zum Universalismus, einer durch Schrift geschaffenen intelligiblen Welt, die Körper und Geist voneinander trennt, sein Können nicht durch künstliche Nachbildungen unter Beweis stellen muss. Die Kunst des Spontanen ist das im Offenen Gehaltene, dass sich durch Selbstentfaltung, durch Nicht-Können-Können erhält. So sagt der in Berlin lebende und in Lüneburg lehrende Biologe und Philosoph Andreas Weber in seinem Buch „Indigenialität“: „Wir sind alle Wilde!“ und führt uns vor Augen, dass unsere Zivilisation nicht nur die Indigenen kolonialisiert hat – auch das Denken des Zivilisierten.
Das Glück des Lebendigen ist, dass es den Bemühungen der Zivilisation zum Trotz immer wild bleibt. Wir können den Weg des Indigenen gar nicht verlassen. Jenen Weg den Laotse im antiken China einst „Tao“ und Heraklit im antiken Griechenland „Logos“ nannte. Er besteht ob wir es wollen oder nicht in unserem Unbewussten fort. Als mir vor dreißig Jahren nach einem Burnout, mit dem die rationalistische marxistisch-leninistische Welt in mir zusammengebrochen war, durch Zufall das „Tao-Te-King“ von Laotse in die Hände fiel, verstand ich, ohne nachzudenken intuitiv sofort das „Tao“ und dessen Tugend, das „Tun ohne Tun“ sowie Heraklits Logos der freien Rede. Der deckt sich nicht mit dem Logos als schriftlich fixiertes Wort, er widersetzt sich dem Archiv: „Wir können nicht zweimal in den gleichen Fluss steigen, das Wasser ist immer ein anderes.“ Doch mit dem Verstand habe ich fast dreißig Jahre gebraucht, um mein Denken von der rationalen Vernunft als feste Burg zu entfesseln. So die Mauer in meinem Kopf zwischen dem oralen („Der Ton macht die Musik“) und schriftlichen („schwarz auf weiß“) Denken zu überwinden. In Südamerika ist die reine Vernunft „Pachamama“ (Mutter Erde, Mutter Kosmos), die neben dem „Sumak kawsay“ (dem guten, harmonischen Leben) seit 2008 wieder in der Verfassung von Ecuador verankert ist. In Ruanda ist es das „Ubuntu“, das von Mandela aktualisiert, in die Verfassung von Südafrika aufgenommen wurde. Das „Ich bin, weil du bist“, wie Ubuntu wörtlich übersetzt heißt. „Ein Mensch ist ein Mensch durch andere Menschen.“ (Desmond Tutu). Sodass sich hier nicht die Richard David Precht Frage: „Wer bin ich – und wenn ja wie viele?“ stellt. Denn das „Ich“ ist hier das Viele und das „Du“ das als Lebewesen verstandene Universum. So ist hier das, was die Welt im Innersten zusammenhält, nicht die Überwindung der Gegensätze, sondern der Dialog. Denn die Einheit der Vielstimmigkeit wird den Ahnen, den Verstorbenen und Noch-nicht-Geborenen zugesprochen. So wird hier nicht durch die positive Dialektik „Wissen ist Macht“ durch die negative Dialektik des Nicht-Wissens die Ohnmacht zum Rohdiamant des Ohne-Macht-Seins, das im absichtslosen Tun seine Tugend zur Selbstentfaltung findet. So ist die „verborgene Harmonie“ mit ihrem Nicht-Können-Können stärker als das Wissen ist Macht der „offenkundigen Harmonie“ (Heraklit).
„Der Fortschritt ereignet sich dort, wo er endet.“ Mit diesem Gedanken schockte Adorno vor 60 Jahren die ideologisch heute technologisch Fortschrittsgläubigen, die im Schritt fort von der spontanen, körperlich geistigen Bindung an das Leben in einer dem Leben von der aufgeklärten Zivilisation gegebenen geistig materiellen Ordnung den Fortschritt sehen. Für Adorno war der Holocaust nicht nur ein Bruch mit diesem Glauben an die Zivilisation, auch ein Bruch mit seinem eigenen philosophischen Denken, das er mit der „Dialektik der Aufklärung“, die er mit Max Horkheimer verfasste und der „Negativen Dialektik“, die als sein Hauptwerk gelten kann, als „Antisystem“ wieder aufnahm. So zeigt er uns den „totalen Verblendungszusammenhang“ der durch festgelegte Begriffe entsteht, indem die Identität des Seienden hinter der Identität des begrifflichen Seins verschwindet. Im Wort Baum findet sich kein Baum wieder. Dagegen setzt er „Kein Sein ohne Seiendes“ und „Leid ist Objektivität, die auf dem Subjekt lastet.“ Heidegger der ebenfalls eine negative Dialektik als „Antisystem“ denkt, versucht mit einer Kunstsprache, ähnlich dem Sanskrit oder Latein, eine intelligible Welt zu erschaffen in der das Subjekt von der Last der Objektivität befreit ist. Für Adorno ist das Weltflucht und so endet auch hier die negative Dialektik im Kampf der Systeme. Weil die Schriftgelehrten ihren Tempel nicht aus freien Stücken verlassen, ihr Stolz mit der Schrift etwas besseres zu können, es ihnen verbietet, über den eigenen Schatten zu springen und die orale Tradition gleichwertig zu sehen. So steckt auch Adornos „Antisystem“ die Verblendung durch „kritische Theorie“ aufklären zu wollen, mittendrin im nächsten und übernächsten Dilemma, gegenwärtig der ökologischen Katastrophe und findet keinen Ausweg aus dem „Weiter so!“ So bleibt der Kopf eckig, ist er nicht rund, damit er von der Reflexion zur Intuition wechseln kann. So ist ein orales, in freier Rede denkendes Bewusstsein auch kein zurück zum Analphabetismus, absichtsloses Tun, nicht unbewusstes Tun und ist „Ich weiß, dass ich nicht weiß“, nicht Dummheit. In allen Fällen eindeutig das Gegenteil. Prüfe den Begriff, indem du vom zu Begreifenden ausgehst, die Absicht, indem du sie vom Absichtslosen siehst, das Wissen, indem du es vom Nicht-Wissen aus betrachtest, die Form, indem du von der Leere und die Leere, indem du von der Form ausgehst. Nur dann lassen wir das einseitige „Weiter so!“ los und können auch anders.
Was also ist der wirkliche Fortschritt? Die Vergangenheit nicht mehr überwinden zu wollen. „Die Seelen, die behaupten der Vergangenheit zu entfliehen, laufen ihr in Wirklichkeit hinterher und holen sie letzten Endes irgendwann in ihrer Zukunft ein. Die Vergangenheit hat Zeit. Sie wartet stets geduldig an der Schnittstelle mit der Zukunft, und genau dort öffnet sie dem Menschen, der sich einbildet, ihr entflohen zu sein, sein wahres Gefängnis aus fünf Zellen: der Unsterblichkeit der Toten, der Fortdauer des Vergessenen, der Schuld als Schicksal, der Einsamkeit als ständiger Begleiter und dem heilsamen Fluch der Liebe.“ So lässt der Senegalese Mohamed Mbougar Sarr in seinem Roman „Die geheimste Erinnerung der Menschen“ den Fortschritt in die Moderne in einen Spiegel schauen und zeigt auf, dass er um das absolut Wahre, Gute und Schöne zu erreichen seine Vergangenheit auslöscht. So im „Labyrinth des Unmenschlichen“ endet. Wenn Nietzsche über sein „Gott ist tot“ sagte „Ich bin Dynamit“, könnte Mohamed Sarr über seine „geheimster Erinnerung“ sagen, „sie sprengt den Diskurs der Aufklärung“. Denn die Moderne hat die unbewusste Entstehung der Existenz aus dem Mythos lediglich durch den bewussten berechenbaren Logos, Gott durch den Übermenschen ersetzt. „Es genügt aber nicht, etwas auszulöschen, um es zu zerstören.“ (Ebenda). „Heimkehren zum Wurzelgrund heißt: Stille finden. / Und dieses nennt man: sich zum Schicksal kehren. / Sich zum Schicksal kehren heißt: ewig sein. / Das Ewige kennen heißt: weise sein.“ (Laotse). So beginnt der wirkliche Fortschritt absichtslos nach der Illusion des Fortschritts: „Er setzt zurück sein Selbst – / Und es wird vorne sein; / Er treibt hinaus sein Selbst – / Und sein Selbst tritt ein.“ (Laotse). So zeigt Art brut mit den Worten von Gerd Presler „Werke von Personen, die durch die Künstlerkultur keinen Schaden erlitten haben, bei denen also der Nachahmungstrieb, im Gegensatz zu dem, was bei den Intellektuellen geschieht, wenig oder keinen Anteil hat, so daß die Autoren alles (Gestaltungsgegenstand, verwendetes Material, Mittel der Umsetzung, Formelemente, Schreibarten) aus ihrem eigenen Inneren holen und nicht aus den Schubladen der klassischen Kunst oder der Kunstrichtung, die gerade in Mode ist.“ („L’ Art brut. Kunst zwischen Genialität und Wahnsinn“).
„Der wirkliche Fortschritt und die Kreativität haben zur Bedingung, dass man Wurzeln schlägt, um sich älter und damit zugleich jünger zu machen. Dringlich ist dabei die Erinnerungsarbeit, die Arbeit an der Geschichte und an der Versöhnung mit den vielfältigen Quellen der eigenen Identität. Diese Arbeit beinhaltet auch ein Entstauben und Aussortieren. Sie ist erst angesagt, wenn man jene Beziehung zu sich selbst neu artikuliert hat, die durch Jahrhunderte der Entfremdung gestört worden ist. Man muss sich wieder als Mittelpunkt seiner selbst denken.“ (Felwine Sarr).
Von der Hybris zum Hybrid. Die Krönung der Schöpfung war gestern. Heute beginnt das Morgen. Der Mensch ist ein Hybrid, eine Mischung aus allem: halb Tier, halb Mensch. Halb Vegetation, halb Kognition. Halb Gott, halb Teufel. Halb Mann, halb Frau. Halb Kind, halb Erwachsener. Halb wild, halb zivilisiert. Halb weiß, halb schwarz. Halb klug, halb dumm. Das macht uns so sympathisch, dass wir nie ganz sind. Das macht uns so agil und fortschrittlich und zugleich so gefährlich, indem wir ganz sein wollen. Doch das Ego ist nicht unser, es ist Hybris und kein Hybrid. „Das Wunder, das den Lauf der Welt und den Gang menschlicher Dinge immer wieder unterbricht und vor dem Verderben rettet, ist schließlich die Tatsache der Natalität, das Geborensein, welches die ontologische Voraussetzung dafür ist, daß es so etwas wie Handeln überhaupt geben kann.“ (Hannah Arendt). So wird aus der „Art brut“, der rohen oder brutalen Kunst bei mir die „Art born“. Geboren mit blauen Augen kann ich die Welt nur blauäugig sehen.
„So endet jeder Hellseher: mit der Sehnsucht nach der Zukunft. So endet jeder Seher: mit der Melancholie gegenüber dem, was kommt.“