KUNSTBEGRIFF ART BORN

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KurzgefasstDie freie Assoziation hat keinen Schöpfer. Sie ist das Unfassbare, das uns als Bild ohne Rahmen nicht gegenüber steht. Wir sind mittendrin. Mit ihr sind wir kein niemand ein jedermann. Ohne Reflexion nehmen wir sie intuitiv wahr, sind mit ihr ohne Objekt der Erkenntnis im Fluss des Seins, der für den Verstand ein Stein des Anstoßes ist. Denn mit ihm ist der Mensch im Fluss doch nicht als Wasser. Als Stein unterbricht er den Fluss, kreiert er die Zeit als seinen Standpunkt im Raum, der zum Zeitgeist geworden ihm aus den Fingern gleitet. Wechselt das Bewusstsein vom Stein zum Wasser, öffnet sich das torlose Tor zum unendlichen Raum. In ihm ist jeder jedermann keiner niemand mehr. So endet unbewusst die Angst vor dem Kontrollverlust und die „verborgene Harmonie ist stärker als offenkundige“ (Heraklit).

 


Ausführlich

 

Unser aller Leben, das Leben der Menschheit auf dem Planeten Erde befindet sich in einem Quantensprung, von dem keiner weiß und sagen kann, wohin er uns führen wird. Wir wissen nur, es gibt kein weiter wie bisher. Mit dem „Entweder oder“ ist es vorbei. Weil alles immer auch sein Gegenteil ist. Was richtig ist, wird falsch, was falsch war richtig. Gut oder Böse war gestern gut und böse ist jetzt. Der menschliche Geist verabschiedet sich von dem linearen Denken in Kausalitäten, dem Dualismus einer regelbasierten Welt, die Top Down ob Demokratie oder Autokratie von oben herab regiert wird. Wir lernen gerade im eigenen Sein Emergenz kennen. Bottom up. Das Hervortreten des Höheren aus dem Niederen. Wieder einmal erfasst uns die Natur als eine Gewalt, die wir uns nicht untertan machen können. Weil sie als ES, als Leben in uns herrscht. Für das Ego ist das ES die narzisstische Kränkung schlecht hin. Es wird durch das ES nie Weltmacht sein. So lernen wir, was das Ego nicht will. Demut. Ohne Schöpfer die Selbstentfaltung der Evolution, den Jungbrunnen der Emergenz kennen. 

Der Fortschritt in die Moderne hat dem Menschen einen Vorhang der Verblendung vor die Augen gezogen. In dem gleichen Maße, indem es dem Menschen gelingt, durch technischen Fortschritt das eigene Leben zu verbessern, verwechseln wir die Kopie mit dem Original. Der heutige Mensch vergleicht sich sein Selbst mit dem Auto oder Computer und folgt nicht mehr dem Baum oder Mond. Wir spiegeln uns auf Bildschirmen und glauben so, wenn der Mensch das Leben auf dem Planeten Erde ruiniert hat, wird es im intelligiblen Universum eine Alternative geben, die der Mensch mit seinen technischen Möglichkeiten bewohnbar macht, indem das Unmögliche gelingt. Das, wonach der Mensch seit Jahrtausenden mit der Weltflucht in das Paradies oder Nirwana sucht. Doch was einst, als der Mensch nur dreißig Jahre auf der Erde erwarten konnte, für den Geist und Körper ein adäquates Mittel zur Lebensverlängerung war, ist heute eine Bedrohung der menschlichen Existenz. Der Mensch flüchtet sich mit ihr aus seiner Verantwortung für die Zerstörung des Planeten Erde in immer neue technische Phantasmen, statt endlich sein Denken zu säkularisieren. Kant wäre um den Verstand gebracht. Er wusste: „Die Ordnung und Regelmäßigkeit an den Erscheinungen, die wir Natur nennen, bringen wir selbst hinein, und würden sie auch nicht darin finden können, hätten wir sie nicht, oder die Natur unseres Gemüts ursprünglich hineingelegt.“(A)

Doch mit Kant und der rationalen Aufklärung „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“ haben wir das Paradox vor Augen, das rational nicht aufzulösen ist. Der Verstand sieht die Dinge im Stand, bringt so den Begriff hervor, der linear logisch, auch dialektisch denkt. Vergisst dabei den Logos, dass alles im Fluss ein Kreislauf ist. Das macht ihn so stark und angreifbar zugleich. So wurde die Entdeckung der Naturgesetze zur Voraussetzung für die Industrialisierung, die wiederum die materielle Basis der bürgerlichen und sozialistischen Gesellschaft ist. Der Mensch entdeckte, dass Energie weder erzeugt noch vernichtet werden kann, dass sie lediglich ihre Form verändert. Doch indem er dabei dem petrifizierten Wissen folgte, vergaß er, dass das gleiche für das Leid gilt. So holzte er den Wald zweimal ab, indem er die Kohle aus der Erde holte. Von der Effizienz seines eigenen Handelns getrieben, verließ er den Kreislauf der Thermodynamik, haben wir heute als Ergebnis dessen den vom Menschen gemachten Klimawandel. So entgrenzte das neue Denken nicht nur die Technik, auch den Glauben an die rationale Vernunft. Fortan war das „Stirb und werde“, die irrationale Vernunft des ES, die den Selbsterhalt der Gattung vor Augen hat, tabu. Jetzt konnte die Aufklärung umsetzen, was der theistische Gott nur forderte, „Machet euch die Erde untertan“. So liegt heute das Paradies in den Händen der Hightech Ingenieure. Doch dieser Quantensprung in eine verstandesgemäße Ordnung der Dinge kam und kommt nicht allen nur einem Drittel der Menschheit zu Gute. Reichtum setzt Armut Ausbeutung voraus. Er verlangt, dass „der Rest der Welt“ für ihn arbeitet. Ökologisch dramatisch, „der Rest der Welt“ darf nicht auf die Idee kommen, sich seinen Reichtum mit den gleichen Mitteln zu holen. Es wäre das Aus für die Gattung Mensch.

So geschah das, was wir Missionierung, Kolonialismus und Imperialismus nennen, die Abgrenzung des Zivilisierten vom Wilden und Primitiven durch das Kreuz, die rationale Aufklärung und die Macht des Kapitals, nicht nur in Afrika, Asien und Lateinamerika, genauso in den Köpfen der Zivilisierten selbst. Die Vergangenheit des ES, die weibliche Kultur des oralen Denkens und Fühlen in Bildern und Mythen, wurde vom Patriarchat auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Die Weisheit der Hebammenkunst, die im Dialog das körperlich Unbewusste ins körperlich Bewusste holt, auf die Sokrates sich geistig beruft, wird von der heiligen Schrift verleugnet. Was vor der Schrift war, galt fortan als primitiv und wurde mit feudaler Härte ausradiert. Das Wilde wurde zum Tier, das Unbewusste zum Teufel, das Kreuz zur göttlichen Schöpfung. Was die Kirche mit ihren Kreuzzügen begann, vollendete die Aufklärung. Die gleiche Aufklärung, die das Kreuz entmachtete, indem der Verstand Gott durch den Beweis ersetzt, mit dem das Kapital die Macht übernimmt. So herrscht in der heutigen Welt der globale Norden über den globalen Süden, der Verstand über die Ahnung, das Kapital über das Gefühl. Eben dieses Konzept steht vor dem Burn-out, fliegt der bürgerlichen Zivilisation geradezu um die Ohren. Die Eskalation ist da und keiner weiß, wie sie endet.

In dieser Situation brauchen wir ein neues Bild von uns und der Welt. „Die Gnade des Gehaltenseins im Offenwerden“ (Picasso). (B) Eine Hinwendung zur Emergenz, dem Hervortreten des Höheren aus dem Niederen. Denn das Top-down, der Blick des Höheren auf das Niedere des ÜBER-ICH, auf das ES des Bewussten auf das Unbewusste kann nichts anderes sein als der Versuch, das Niedere für sich gefügig zu machen. Wir brauchen das Gegenteil. Bottom-up. Den Quantensprung im Denken von der Schöpfung zur Selbstentfaltung. Die Erwärmung des ICH durch das ES, des Bewussten durch das Unbewusste der Rationalität durch die Leidenschaft. Einen Klimawandel unter den Menschen, der den vom Menschen gemachten Klimawandel der Atmosphäre beendet. Das Ende der Verblendung. Weder kann die Vergangenheit überwunden noch die Zukunft erreicht werden. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind nicht gestern, heute und morgen. Sie sind das Jetzt. Drei Aspekte der Ewigkeit. Hier. Dieser Moment. Die Raumzeit. In die wir eingreifen und indem wir in sie eingreifen, die Trennung von Raum und Zeit, Körper und Geist, Mensch und Natur herbeiführen. 

DAS LOSLASSEN ALS GEBOT DER STUNDE

„Wo Es war, soll Ich werden,“ lautet ein Grundsatz von Sigmund Freud, mit dem er das Ich gegenüber dem Über-Ich selbstbewusst machen wollte. Top down gedacht bedeutet er jedoch „Ich denke, also bin ich“ und nicht „Es (das Nicht-Ich) denkt mich“. Vom „Über-Ich“ (Gewissen, Ideal, Wert, Moral) Top down aus gesehen ist das Leben „Es“ ein „blinder Trieb“ der Natur oder „wildes Tier“, das vom Verstand als Realitätsprinzip mit dem „Ich“ zur praktischen Vernunft gebracht wird. Bottom up das Gegenteil. Das „Es“ Leben will leben, sublimiert als Trieb die Lust der Fortpflanzung und Selbsterhaltung zum Bewusstsein, das durch die Erfahrung des Selbst im Nicht-Ich – „Ich bin, weil du bist“ (D) – seine Grenzen hat. Während das Über-Ich sich in den Himmel entgrenzt. So ringt und kämpft die Bodenlosigkeit mit dem Prinzip Hoffnung gegen den Untergang. Während das Nicht-Ich die Negation bereits im Namen trägt. Alles ist immer auch sein Gegenteil. Das Leben kann nur leben, indem es stirbt. Nur ewig sein, indem das „Stirb und werde“ der Himmel auf Erden ist. Denn das Leben beginnt und endet nicht nur im Nicht-Ich, es ist nur als Nicht-Ich lebendig. Wird die Lebendigkeit, die wir sprachlos staunend bewusst erleben, einem Über-Ich aus dem Himmel „Ich aber sage euch“ (Jesus) oder dem Ego auf Erden „Ich denke, also bin ich“ (Descartes) zugesprochen, realisieren wir nicht das Unfassbare, lediglich das „Wissen ist Macht“. Petrifizierte Gedanken.

So gesehen macht die moderne Kunst uns seit gut einem Jahrhundert vor, wohin der Quantensprung in den Atheismus im Geiste führt. Vieles kann einfach nur weg, weil es lediglich das Ego des Künstlers in sich trägt. Picasso fasste es so zusammen: „In einem gewissen Maße sind wir alle Autodidakten. … Als man sich darauf einigte, daß es auf die Gefühle und Emotionen des Malers ankomme, daß jeder die Malerei neu schaffen könne, so, wie er sie verstand, ganz gleich, wo er begann, da gab es keine Malerei mehr. Es gab nur noch Individuen. … In gewissem Sinn ist das eine Befreiung, aber gleichzeitig ist das eine ungeheure Begrenzung, denn wenn die Individualität des Künstlers beginnt, sich auszudrücken, verliert er das, was er an Freiheit gewinnt, an Ordnung.“ (E) So beginnt das entgrenzte Ich euphorisch frei und wird, indem es sich ordnet zum Ego, das als Spießer endet. Picasso sieht eine andere, die absolute Freiheit: 

„ICH SUCHE NICHT, ICH FINDE“ (B)

… Man muß etwas finden, das sich selbst entwickelt, etwas Natürliches, nichts Hergestelltes, damit es sich entfalte nach den Formen des Natürlichen und nicht nach den Formen der Kunst.“ (F)

„Etwas Geheiligtes, darum geht’s. Man müßte ein Wort dieser Art gebrauchen können, aber es würde schief aufgefaßt, in einem Sinne den es nicht hat.“ (F). Denn Picasso versteht das im Offenen Gehaltene existenziell, weder metaphysisch noch rational. Für ihn ist es die Ahnung, die „Gnade“ der Geburt, mit der das Leben trotz alledem und alledem immer weitergeht, es dir und mir ermöglicht, als Teil des ewigen Lebens zu leben. 

Eben so erging es mir, als der Marxismus-Leninismus für mich und ich mit ihm in einem Burn-out zusammenbrach. Für mich war er die Lebensentscheidung, die ich mit 18 Jahren traf. Wie eine Ehe vor dem christlichen Altar, bis der Tod euch scheide. Marx und Lenin hatten mir gezeigt, dass ich ein entfremdeter Arbeiter bin, dessen Erlösung der Sozialismus ist. Diesen Stand konnte der Verstand nicht verlassen, ohne das Nichts zu fürchten, das ich 14 Jahre zuvor in den Nächten als Albtraum erlebt hatte. Ich folgte meiner Überzeugung, bis nichts mehr ging, ich mit ihr zusammenbrach. Dabei fiel ich nicht in das gefürchtete schwarze Loch, erlebte große Weite und nichts Heiliges. „Die Gnade des Gehaltenseins im Offenwerden“, wie Picasso es so treffend sagt. Und weil alles, was den Verstand überschreitet nicht in Worte zu fassen ist, er aber nur ein Drittel das bewusste Sein abdeckt und in zwei Dritteln unseres Da-Seins im Dunklen tappt, begann ich zu malen und entdeckte dabei „Art born“. Die Hand ist klüger als der Verstand. Sie kennt „nur“ das Hier und Jetzt das Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als Ewigkeit vereint. Ihm folge ich im absichtslosen Tun der Weisheit des WuWei. So bestätigt mein Leben und forschendes Tun als Künstler nicht nur Adornos Weisheit „Der Fortschritt ereignet sich dort, wo er endet.“ (G). Es bestätigt auch, was Picasso „das schlimmste“ nannte. „Das schlimmste ist, es ist nie etwas abgeschlossen, es gibt nie den Moment, wo man sagen kann: ich habe gut gearbeitet, und morgen ist Sonntag. (…) Man kann ein Bild sein lassen und beschließen, nicht mehr daran zu rühren. Aber nie kann man darunter schreiben: Ende.“ (B)

Ein Amen kennt nur der Glaube. Dem Zweifel folgt die Verzweiflung und ihr das Loslassen. So überwindet der Zweifel den Irrtum, während der Glaube sich an ihn bindet. So ist die Natur des Menschen keine feste Burg. Das Gehaltensein im Offenwerden.

(Oktober 2023)

(A) Immanuel Kant, Gesammelte Schriften. Hrsg.: Bd. 1–22 Preußische Akademie der Wissenschaften, Bd. 23 – (B) Pablo Picasso „Gedichte“, Gebundene Ausgabe 2007, DVA – (C) Precht im Podcast „Lanz & Precht“, 11.August 2023, Folge 101 – (D)  Ubuntu, eine Stammesweisheit in Südafrika – (E) Francoise Gilot, Carlton Lake, „Life with Picasso“, New Yorck 1964, deutsch „Leben mit Picasso“ (dtb) – (F) Helene Parmelin „Picasso dit“, Paris 1966 – (G) Adorno, Theodor W.: „Fortschritt“ (1962) In: ders.: Stichworte. Kritische Modelle 2, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1969