Erzählt wird die Geschichte von einem Jungen der nicht glauben konnte, dass im Anfang das Wort ist und so schon als Kind dachte „Alles ist umgekehrt!“
Die Selbstentfaltung des Lebens in Autopoiese ist schnell verstanden. Das Leben ist ein Fluss, in gegenseitiger Abhängigkeit ewig werden und vergehen, ein Fluss, in den wir nicht zweimal steigen können, er ist immer ein anderer. So hat es Heraklit von Ephesos 500 v. Chr. beschrieben und diese seine Logik als „Logos“ bezeichnet. Der Logos versteht spontan im alltäglichen die Autopoiesis. Doch das spontane Erleben entzieht sich dem Begriff. Denn das sinnliche Begreifen erfolgt nonverbal, ist vegetativ. So schweigt im Begreifen das Wort. Mit einem Quantensprung vom Begreifen zum Begriff nimmt es aus dem Stand den Fluss des Sinnlichen aus dem Spiel. So kommen wir zur Erkenntnis und verwandeln mit ihr die sinnliche Realität in eine sprachlich gefasste kognitive Wirklichkeit. Die ihre Bewusstseinsinhalte mit dem Willen zur Macht des Wissens in ein Konzept der zweiten Natur verkehrt. Geistig verlässt die Welt des Wissens dabei den Fluss und betrachtet vom Ufer aus, wie der Fluss sich untertan fügt, nicht mehr fügt. Weil die spontane Realität hier und jetzt als Chaos der gebildeten Wirklichkeit ihr Konzept streitig macht.
So vollzog sich der Sprung von der Weisheit zur Wissenschaft, der aus dem Stand einen gewaltigen Fortschritt der Menschheit bis in die virtuelle Welt der Technik ist, indem wir die spontane Natur untertan machen. Getragen vom Traum durch Reflexionen ist der Mehrwert vollendeter als die spontane Autopoiese des Lebendigen. Doch heute dämmert uns, die Natur schaut nicht tatenlos zu. Wir haben die Ufer bebaut, Flüsse begradigt, Meere verschmutzt, das Klima massiv verändert und zahlen dafür jetzt den Preis. Das Streben nach Mehrwert und Profit fällt uns auf die eigenen Füße und das ist gut so. Wie ich das persönlich erlebte und was für Schlüsse ich daraus ziehe, erzählt dieser Text.
Die Poesie zwingt sich nicht auf, sie setzt sich aus.
Die Kunst erweitern? Nein. Sondern geh mit der Kunst in deine allereigenste Enge. Und setze dich frei.“
(Paul Celan)
Als Kind war mein Schicksal die Legasthenie. Warum es eine Schwäche beim Lesen und in der Rechtschreibung gibt, weiß ich nicht? Ich hatte bei der Geburt auch Klumpfüße, aus denen Knick-, Senk-, Spreizfüße wurden und weiß nicht warum. So habe ich nur drei Bücher in meiner Kindheit gelesen, von Astrid Lindgren, den „Kalle Blomquist“. Und meine Schwäche in der Rechtschreibung war äußerst kreativ. Sie wurde nicht als solche erkannt. Denn ich brachte streng entlang meiner Gefühle und Wahrnehmungen eine eigene Grammatik hervor. Sie war keine allgemeine, so hat es keine Schule interessiert. So ist mein erster mir aus der Kindheit bewusst gebliebener Gedanke „Alles ist umgekehrt“. Ich hatte den Verdacht, das Wort sagt nicht die Wahrheit und spürte ihm als Meisterdetektiv nach. Meine Recherchen als Kind ergaben: Das Wort ist ein „Stra-ra-raßenkreuzer“. Ein Symbol. Es steht stellvertretend für etwas anderes. So sagt es immer nur ein Teil der Wahrheit. Und wenn es behauptet, im Anfang war das Wort, dann lügt es. Vor ihm war das Bild. Dabei folgte mein Wahrheitsbegriff, wie ich später erfuhr, intuitiv der Korrespondenztheorie, die besagt wahr ist, wenn die gedankliche Vorstellung sich mit der Wirklichkeit deckt. So ist das Bild die Wirklichkeit, an dem die Wahrheit sich orientiert. Dabei dachte ich nicht an das reproduzierte Bild. Wir hatten erst sehr spät einen Fernseher, gingen nicht ins Kino und Fotos tauchten nur schwarz-weiß in meiner Erinnerung auf. Ich ging von der menschlichen Natur vor meinen Augen aus.
So war ich selbstverliebt in eine Ahnung und habe mich mit meinem Bild dem Wort verweigert. Lieber habe ich mit Händen und Füssen gesprochen, mich in Worten überschlagen, als es in grammatisch korrekten Sätzen zu tun. Die Disziplinierung meiner Ahnung für das geschriebene Wort, um mit ihm etwas ins Fenster zu stellen, was man weder ist noch auf Lager hat, das ging für mich zu weit. Da steht mir das Gewissen, meine Ehrlichkeit im Weg. Doch gleichzeitig durfte der Konflikt zwischen mir und der Wirklichkeit auch nicht auffallen. Denn es gibt für ein Kind nichts Schöneres und zugleich nichts Grausameres als die Einsamkeit. Einerseits ist sie die Freiheit, der Schutzraum vor der Welt der Erwachsenen und andererseits die Falle, durch die es nicht gelingt, in der Welt der Erwachsenen anzukommen. So schämte ich mich dafür, dass ich das Bild ohne Autor kenne, nicht ich es mir es mich ausgesucht hatte. So war ich doppelt angepasst, ein Schüler voller Minderwertigkeitskomplexe. Bis in die Pubertät. Da kam der Frühling zu mir.
Noch an der Hauptschule entdeckte mein Kunstlehrer, der Name ist übertrieben, unser Schulfach hieß schlicht „Malen“, dass ich ein Gefühl für Farben habe und ermunterte mich in meiner Kreativität. So bekam ich in der Theater-AG die Hauptrolle und weil er mich und ich ihn gut verstand, ebnete er mir auch den Weg in das Statt-Theater Neumünster, das mit seinem lokalen Kabarettprogramm gerade Furore machte. Das war die Zeit, in der in der BRD die antiautoritäre Bewegung von den Großstädten aus auch die Provinz erreichte. Rudi Dutschke hatte zum Marsch durch die Institutionen aufgerufen und so erreichte mich in der Naturfreundejugend, zu der das Statt-Theater zählte der ML-Virus. In Eigeninitiative begann ich nun Marx, Lenin und Mao zu lesen und verstand: Ich bin ein entfremdeter Arbeiter. Zum ersten mal sagte für mich das Wort die Wahrheit. Damit war meine Einsamkeit nicht mehr persönlich, bekam sie mit dem Klassenkampf eine konkrete Utopie. In der Solidarität der Arbeiterklasse existiert die Klasse nur noch für sich, ist sie, so die reine Lehre des Marxismus an sich bereits überwunden. So bekam ich meinen Platz in der Welt der Erwachsenen.
Zunächst noch in der antiautoritären Bewegung mit Sex and Drugs and Rock´n´Roll. Mit wilder Malerei, Gedichten und Theaterspiel. Doch dann, als ich erkannte, hier setzt sich nur der Stärkere durch, der ich nicht war, da wusste ich, ich muss mich organisieren. In einer Arbeiterpartei. So ließ ich den antiautoritären Protest hinter mir und wurde Mitglied einer Kaderpartei, schließlich im leninschen Sinne zum „Berufsrevolutionär“. Mit bürgerlichem Namen ein hauptamtlicher Parteifunktionär. Das war ich 11 Jahre lang, Mitglied 16 Jahre, bis in mir die Überzeugung zusammenbrach, im richtigen Moment am richtigen Ort zu sein. Durch das Aufkommen der Frauen-, Anti-Atom-, Ökologie- und Friedensbewegung, später dem Parteibildungsprozess der Grünen, entstanden für mich zu viele Widersprüche, die sich mit der schlichten Antwort der Verstaatlichung des Privateigentums nicht mehr lösen ließen. Zudem versank die ML-Bewegung in der Bedeutungslosigkeit.
Hinzu kam die private Trennung von einer großen Liebe. Für sie gilt schon hier und jetzt, was der Marxismus sich für den Kommunismus aufgespart hat. Allein in der gelebten Solidarität ist der Widerspruch zwischen Mensch und Wirklichkeit aufgehoben. Alleine ist das unmöglich und nennst du nur eine Seele dein auf diesem Erdenrund sind gleich Millionen umschlungen. Wie Schiller es in seiner „Ode an die Freude“ dichtet. Doch warum? Weil gelebte Solidarität weder eine Idee noch ein Mensch ist. Sie ist die Überwindung des abstrakten Denkens durch das Mitgefühl, das die Lebenden mit dem Leben vernetzt und verbindet, indem das Leben nur in der Mehrzahl existiert, so keinem gehört. Sodass weder das Privateigentum noch die Verstaatlichung das Problem lösen, allein die Überwindung des Mehrwerts, mit dem der Mensch glaubt im Besitz der Wahrheit zu sein. So quälten mich Ausstiegsgedanken zwei Jahre lang, die ich weder äußern noch umsetzen konnte, weil sie mein Gelöbnis, lebenslänglich Kommunist zu sein brachen. So schleppte ich mich ins Parteibüro, bis mein Körper eine andere Entscheidung traf. In der Politbüro-Sitzung über den 70. Jahrestag der Oktoberrevolution brach ich mit einem Burnout zusammen. Seinerzeit gab es den Begriff noch nicht. Für mich brach für einen kurzen Moment mein Kreislauf zusammen. Mir wurde schwarz vor Augen und ich rutschte vom Stuhl unter den Tisch. Dort angekommen hat man mich auf eine Trage gelegt und ich sah, wie in einem Film mein politisches Leben vor mir vorüberziehen.
Wieder sprach das Bild ohne Autor zu mir, nun als Wille ohne Macht. Zu der Zeit lebte ich in einer WG und die Genossen brachten mich, der noch etwas benommen, doch wieder aufrecht und alleine gehen konnte, dorthin. In den Armen einer Mitbewohnerin weinte ich mich erst einmal aus. Nach über 12 Stunden Schlaf wachte ich auf und die Mauer, die mein Gelöbnis in mir hochgezogen hatte, war weg. Ich war frei und konnte nun aus meinem Leben machen, was ich wollte. Die gründliche Ausbildung als Kader einer kommunistischen Partei gab mir das Gefühl, das ich nun der Sozialisation gewachsen bin, sodass sich mein eigentliches Ich, von dem ich noch nicht wusste, dass es reine Lebensfreude ist, sich durchsetzen konnte. Ein halbes Jahr später, ich war nun nicht mehr Parteifunktionär und nicht mehr Mitglied der Partei, ich befand mich in meinem Sabbatjahr in einem Sprachkurs in der Türkei, da fragte mich ein Grafikstudent aus Istanbul, ob ich Lust hätte zu zeichnen. Drei Teilnehmer kamen zusammen und wir bekamen zunächst die Aufgabe, ein Stillleben aus Flaschen und Gläser abzubilden.
In mir wurde augenblicklich die Trotzbacke mobil und ich zeichnete unsere Dolmetscherin, in die ich mich verguckt hatte. Spontan mit freiem Strich entstand mein erstes Porträt. Alle waren begeistert und so konnte ich mich über Modelle nicht beklagen. Zurück in Deutschland war der freie Strich wie weggeflogen. Jetzt verlangte das „Man“, die Anpassung des Denkens an das Dispositiv des Normalen, an eine unausgesprochene Objektivität des Allgemeinen, von mir zu prüfen, ob mein Tun auch ihm gerecht wird. Von jetzt auf gleich kehrte meine Ohnmacht zurück und ich war wieder der Versager, mit dem ich zu Beginn meines Lebens konfrontiert war. Wieder war es die Scham, die mich zur Anpassung zwang. In unendlich vielen Stunden versuchte ich anhand von Lehrbüchern richtig zeichnen zu lernen und es kamen nur tote Bilder dabei heraus. Wütend über mich selbst attackierte ich sie mit wilden Strichen. Und siehe da, sie begannen zu leben. Wieder sprach das Bild ohne Autor zu mir und ich verstand seine Botschaft: „Die Hand ist klüger als der Verstand.“
„Der Irrtum ist der Wesensraum der Geschichte.“
„Die Geschichte des Seins beginnt mit der Seinsvergessenheit, damit daß das Sein mit seinem Wesen, mit dem Unterschied zum Seienden, an sich hält.“
„Am Rätsel des Seins muß das Denken dichten.“ (Martin Heidegger)
Mit dem spontanen Strich hatte ich nun den Ariadnefaden gefunden, um das Labyrinth der Seinsvergessenheit zu durch schreiten. Denn im Anfang unseres menschlichen Seins ist weder das Wort noch das Bild. Im Anfang ist die Seinsvergessenheit des Seienden. Aus ihr kommen wir, in sie gehen wir und sind wir als Autor oder Verfasser unseres Irrens zu Hause, solange wir danach streben unsere Seinsvergessenheit durch Glauben an ein Jenseits oder Wissen im Diesseits zu schließen. Sodass wir nur in den Momenten, in denen wir unsere Komfortzone verlassen, im „Lebenleben“ (Sloterdijk) beheimatet sind und dessen Autopoiese, der „Gnade des im Offenwerden Gehaltenseins“ (Picasso), folgen. Diese spontanen absichtslosen Momente des Mitgefühls, der Liebe, der Solidarität, das Geborgensein im Flow der Selbstherstellung sind gar nicht so selten im Leben. Allein wir ignorieren sie, indem wir nach Macht über sie streben. Die Alten, indem sie zu Gott in dessen Paradies strebten. Wir Modernen, indem wir sie durch Besitz und Eigentum als Paradies auf Erden errichten wollen. So ersetzen wir die reine Lebensfreude, deren Kraft ein Wille ohne Macht ist, denn was geboren ist, muss sterben, durch den „Willen zur Macht“ dessen Gott glaubt, unsterblich zu sein. So ist die „Kehre“ vom modernen „sozialen Ich“, dem Willen sich die Natur untertan zu machen, zum „eigentlichen Ich“ sich als Teil der Natur zu erfreuen (alles Heidegger) das „Stirb und werde!“, aus Goethes Gedicht „Selige Sehnsucht“.
So verstand ich Laotses „Tun ohne Tun“, indem ich es mir mit dem spontanen Strich vor Augen führte. So entdeckte ich mit Rilke den „Weltinnenraum“ der Ahnung oder Intuition und verstand intuitiv Sokrates „Ich weiß, dass ich nichts weiß.“ Dass das Nicht-Wissen nicht Unwissen, das Wissen der Seinsvergessenheit ist. Als ich dann auch noch Rilkes „Archaischer Torso Appollos“ in der Interpretation von Peter Sloterdijk las, als „Du mußt dein Leben ändern“ und den Quantensprung vom Wissen zum Nicht-Wissen vollziehen, da dachte ich, ich muss sterben. Wie oft hatte ich mein Leben schon verändert? Und nun auch noch der Sprung ins Nichts, in die Angst vor der Leere? Da dämmerte in mir meine Erfahrung mit dem Burn-out. Nicht die Ratio die Lebendigkeit ist der Weg. „Könnten wir weisen den Weg, es wäre kein ewiger Weg“ (Laotse). So wurde aus dem Fluch der „Seinsvergessenheit des Seienden“ (Heidegger) der Segen des Nicht-Wissens. So verstand ich, dass die Albträume, die vierzehn Jahre lang mein Leben begleiteten, meine Verlorenheit im atheistischen Denken waren, das mit dem irrationalen Gott nicht nur das Symbol, das Irrationale des Lebens gleich mit ignoriert. Sodass dem rational Aufgeklärten nur noch das „Man“ das moderne soziale Ich bleibt. Endlich ließ ich meinen rationalen Verstand los, der glaubt, die reine Vernunft unseres Seins ohne Zweck und Ziel durch die praktische Vernunft aus Zweck und Leistung überwunden zu haben. So waren meine Albträume reine Vernunft, die mich lehrte, dass ich vom ersten bis zum letzten Tag in einem geistigen Raum lebe, der anders ist, als er der rationalen Vernunft im Blick von außen erscheint. Nichts von meiner Natur, die der Funktionär in mir erfolgreich zum Schweigen gebracht hatte, war eingebüßt oder verloren. Ob Blume, Baum, Tier oder Mensch, wir alle sind Bilder ohne Autor, solange wie wir uns kein Bild von uns machen. Machen wir das, wird aus dem Dasein ohne Autor eine Identität, die uns vom Leben entfremdet.
Ausgehend von der Energie als Kraft und Trieb, ja Wille ohne Zweck und Ziel, ist das Urbild des Seins divers. Es sei denn, wir unterstellen der Energie einen Autor. Den sie nicht hat, sie ist im Fluss stetiger Wandel. Ein Feld aus Raum, Atmosphäre, Leere, Kraft, Atem, Wille, Trieb, Geist, Ursache, Wirkung, Zufall, Chaos, das in sich eine Folgerichtigkeit hat. Sie ist, was nicht verloren geht, was sich stets verwandelt, es sei denn, die Sonne erlischt und um sie herum wird alles dunkel und kalt. Dann gibt es das Sonnensystem nicht mehr. So ist das Bild von Himmel und Erde materiell, visuell, geistig spirituell Kraft und Anker der Körpersprache. Die mit Mimik und Gestik an den Ort gebunden in oraler Tradition verlautbar Wort wird, sodass aus dem körperlich gebundenen Sein eine Erscheinung wird, die sich als Welt verselbstständigt. So leben wir in einer Natur ohne Autor und einer Welt, die durch Name, Form und Zahl einen Autor hat. Hier heißt zur Welt kommen nicht in ihr leibhaftig da sein, hier heißt zur Welt kommen in der Zweitsprache zu parieren. Neben der nonverbalen Muttersprache der Intuition die verbale Kognition der Vatersprache zu beherrschen.
Alles ist eine Frage der Sprache und nicht nur der deutschen Sprache. (…) Darunter schwelt noch eine Sprache, die reicht bis in die Gesten und Blicke, das Abwickeln der Gedanken und den Gang der Gefühle.“ (Ingeborg Bachmann).
„Hieroglyphen kamen vor den Buchstaben, und Gleichnisrede kam vor dem Argument. Dennoch behalten sie auch heute noch und zu aller Zeit lebendige Kraft, weil die Vernunft nicht so sinnlich und Beispiele nicht so anschaulich sein können.“ (Francis Bacon)
„Denn der Mensch der visuellen Kultur ersetzt mit seinen Gebärden nicht Worte wie etwa die Taubstummen mit ihrer Zeichensprache. Er denkt keine Worte, deren Silben er wie Morsezeichen in die Luft schreibt. Seine Gebärden bedeuten überhaupt keine Begriffe, sondern unmittelbar sein irrationales Selbst, und was sich auf seinem Gesicht und in seinen Bewegungen ausdrückt, kommt von einer Schicht der Seele, die Worte niemals ans Licht fördern können. Hier wird der Geist unmittelbar zum Körper, wortelos, sichtbar.“ (Béla Balázs)
„Der jüdische Monotheismus zerschlug dieses kosmotheistische Gewebe zugunsten neuer Manifestationsformen des einen Gottes in den Dimensionen von Schrift und Geschichte. Mit der Erschließung dieser neuen Dimensionen wurde die Göttlichkeit des Kosmos („Kosmotheismus“) negiert, was schließlich zu einer Entzauberung der Welt und einer Vertreibung der Götter ins Exil der Poesie führte. Die entgötterte, vergleichgültigte Sphäre der Natur konnte sodann der praktischen Vernunft und technischen Verfügung überlassen werden. Indem sich der monotheistische Gott in Schrift und Geschichte verkörperte, zog er sich aus der Welt zurück, die damit den Charakter einer lebendigen Botschaft verlor. An die Stelle der unmittelbaren Signifikation mit ihren kosmotheistischen Grundlagen trat, zusammen mit einer entgötterten Welt, das System der mittelbaren Signifikation, das auf phonetische Schrift und die konstruktive Kraft menschlicher Zeichengebung gegründet ist.“ (Aleida Assmann „Im Dickicht der Zeichen“).
In dieser Tradition intelligibler Wirklichkeitskonzepte fußt die rationale Aufklärung. Ihr verdanken wir den zivilisatorischen Fortschritt des Menschen in eine juristische, regelbasierte Verfassung des Lebens. Nicht nur die Menschenrechte, den technischen Fortschritt in die Logik der Zahlen bis in den Algorithmus der KI der Menschen bis auf den Mond gebracht hat. Doch nicht nur die Klimakatastrophe bereits der Faschismus sowie die Diktatur des Proletariats hat uns mit dem Rückschritt dessen, dem Verlust der phänomenalen Logik, dem Denken vom Lebendigen aus, konfrontiert. Denn der Mensch hat nicht nur durch die „konstruktive Kraft menschlicher Zeichengebung“ seine Bindung an die Sprache der Natur verloren, er greift mit ihr sich selbst zerstörend in sie ein. Das zwingt den Menschen zur Kehre. Zur Abkehr vom Glauben an den linearen Fortschritt. Wo Fortschritt ist, ist Rückschritt. Der Mensch kann seine Fragen nicht einseitig weder auf Fortschritt noch Rückschritt setzend lösen. Er muss seine konstruktive Kraft falten und in allem vom Nichtwissen ausgehen. Nur dann steht der Übermensch der Kognition und der Mensch der Intuition, sich selbst nicht mehr im Weg. Mich überzeugte Sokrates, als ich von ihm in Platons „Phaidros“ las, wie er die Hieroglyphen gegen die konstruktive Kraft des abstrakten Zeichens verteidigt: „Denn wer dies lernt, dem pflanzt es durch Vernachlässigung des Gedächtnisses Vergesslichkeit in die Seele, weil er im Vertrauen auf die Schrift von außen her durch fremde Zeichen, nicht von innen her aus sich selbst die Erinnerung schöpft.“
Der Maler ist privilegiert. Er sieht und kennt die Ur-Situation. Das leere Blatt, auf dem sich ein Bild mit dem „Willen zur Macht“ (Nietzsche) oder im Spiel mit dem „Willen ohne Zweck und Ziel“ (Schopenhauer) entfalten kann. Folgt er Nietzsche, folgt er dem Logos der praktischen Vernunft, folgt er Schopenhauer dem Logos der reinen Vernunft, der sich nicht in Worte fassen lässt. So entsteht ein Bild ohne Autor. Das ohne Raum und Zeit die Fragen nach dem Ewigen stellt. Die ältesten Fragen der Menschheit, die sich uns erst erschließen, wenn wir frei nach der Weisheit des Rumi verstehen, dass nicht wir die Weltverbesserung suchen, sondern die Weltverbesserung uns. So müssen wir nichts neu erfinden, denn alles ist bereits vorhanden. Wir müssen es neu ohne Wissen mit einer, wie der Dalai Lama sagt „yogischen Wahrnehmung“ realisieren. Sodass wir die wirkliche Wirklichkeit erfahren, in der alles „A (Existenz) – Nicht A (Nicht-Existenz) – A und Nicht-A (Sowohl als auch) – Weder A noch nicht A (weder Existenz noch Nicht-Existenz)“ ist. Auf die Wirklichkeitskonzepte des modernen Denkens angewandt, nimmt das „Tetralemma“, so Nagarjuna, einer der sechs Nachfolger des Buddhas, den Schleier der Illusion von der Realität. Indem nicht mehr das Ich mit seinen Konzepten, die Autopoiese der Wirklichkeit uns denkt. In der chinesischen Tradition, die als einzige keinen Gott und damit keine absolute Wahrheit, kein Denken in substanziell fassbaren Entitäten hervorgebracht hat, ist das das „Tao“ von Laotse, im Buddhismus das „Dharma“. Beide beginnen mit dem ersten Schritt von der Kenntnis zur Erkenntnis vom Erleben zum Wissen, bleiben Weisheit und erliegen nicht der Macht der Konzepte, werden weder Wissenschaft noch Theologie. So sind ihnen Konstruktionen wie Schöpfer und Schöpfung, Ziel und Mehrwert fremd. In einer Welt gegenseitiger Abhängigkeit, in der nichts aus sich selbst heraus und nichts für sich selbst existiert, ist das große Mitgefühl die absolute Freiheit.
Malt der Maler absichtslos, folgt er dem Mitgefühl und keiner vorab gedachten Idee. Sein Bild ist spontan. Real. Doch noch keine Wirklichkeit. Die Wirklichkeit ist die kognitive Erkenntnis der sinnlichen Realität. In ihr steht tatsächlich im Anfang das Wort, doch das Wort ist nicht der Anfang. Der Anfang ist namenlos. So muss das spontane Bild sich diesem Dilemma stellen und kann sich nur mit einem „Tetralemma“ aus ihm lösen. Indem es A und Nicht-A, sowohl A als auch Nicht-A und weder A noch Nicht-A, ein Bild ohne A(utor) ist, das spontan in Malprozess und Betrachtung entsteht. So wird aus der tautologischen Behauptung „Eine Geste ist eine Geste, ist eine Geste“, bei der das Informel stehen geblieben ist, der Weg in ein neues Sehen der Wirklichkeit, mit dem sich gerade auch die Quantenmechanik auseinandersetzt. Denn das Informel kann durchaus als eine vor über hundert Jahren entstandene malerische Antwort auf die Relativitätstheorie von Einstein und die Quantenmechanik von Heisenberg und Born verstanden werden. Diese zeigen mit ihren Messungen Berechnungen und Experimenten, dass die technische Realität die Wirklichkeitskonzepte der Metaphysik und der traditionellen Physik sprengt. So realisieren wir heute technisch eine Welt ohne feststehenden Raum und feststehende Zeit und können sie kognitiv noch nicht denken. Weil unser Wissen in rationalen Konzepten des Denkens verhaftet, nicht der spontanen Weisheit folgt. Sodass auch Technik sie nur vermessen nicht ermessen kann.
Sodass die Befreiung des Denkens nicht mit der Befreiung von einem Schöpfer und seiner Schöpfung erledigt ist. Auch das Konzept der Menschheit und des Universalismus, das der Realität noch immer ein Ding an sich, eine absolute, nur dem Verstand zugängliche Entität unterstellt, muss überwunden werden, damit wir der wirklichen Wirklichkeit begegnen, in der alles mit allem verbunden in gegenseitiger Abhängigkeit stirbt und wird, weil es in sich leer weder absolut noch ewig ist. Die Autopoiese als absolute Freiheit. Als Befreiung vom Autor sowohl als Symbol im Himmel wie auch im abstrakten Denken als Mensch auf Erden. In der Autopoiese des Lebens ist sowohl das Konzept des Glaubens wie der Aufklärung, die Dualität zwischen Körper und Geist im Lebenleben überwunden. So ist die Gegenwart tatsächlich ein Ende der Geschichte aus Vergangenheit und Zukunft, Raum und Zeit. Das Ende des „Teile und herrsche“. Und das ist gut so. Verheerend ist, dass der Wille zur Macht sowohl des Glaubens wie des Wissens sich gerade allerorts in politischen Turbulenzen und Kriegen Bahn bricht. Die Welt ist aus ihren Fugen geraten und wir verstehen noch nicht die Freiheit der Leere.
Macht das Informel den nächsten Schritt, bleibt es nicht bei einer „Kunst ist Kunst“ stehen, durchläuft es einen Prozess zum Tetralemma. So zeigt sich im absichtslos Gemalten die Wirklichkeit, wie sie ist, das Eine – das Andere – Beides – keines von beiden – all das und das auch nicht. So wird aus dem Bemühen, nach dem Abbild des Wirklichen als Kopie ein Bild der wirklichen Wirklichkeit zu erschaffen, ein Weg ohne Ziel. Zur Zeit erleben wir auf ihm eine Götterdämmerung, in der der einst symbolische Gott als Entität im Himmel ein zweites Mal stirbt. Nun als Ursache, Wirkung und Kausalität, Raum und Zeit, mit denen er ein zweites Mal im abstrakt säkularisierten Denken auferstanden ist, uns so als „Ding an sich“ (Kant) beherrscht.
Es geht darum, sich dem Zugriff jenes rationalen und mechanistischen Modells zu entziehen, das die Welt erobert hat. Es hat sich als Herr und Besitzer der Natur begriffen und dabei ein verkehrtes Menschenbild durchgesetzt, unter Festschreibung des Primats der Quantität gegenüber der Qualität, des Habens gegenüber dem Sein.“
„Die Grenzen sind immer geistige. Der erste Durchbruch besteht darin, sich klarzumachen, dass die Welt umfassendere Möglichkeiten bereithält als die Reelle ahnen lässt, indem wir agieren.“
„Die Möglichkeit, selbst zu denken, wird erst dann weiterführen, wenn man sich von den ideologischen Systemen löst, die für diese Möglichkeit grundlegend und strukturierend gewesen sind. Es geht darum, erfolgreich gegen die eigene intellektuelle Genealogie und ihre Erkenntnistradition anzudenken.“
(Felwine Sarr, „Afrotopia“)
Felwine Sarr, senegalesischer Philosoph, Schriftsteller, Wirtschaftswissenschaftler und Musiker, zeigt im „Afrotopia“, dass afrikanische Gesellschaften im Gegensatz zu westlichen Geübter darin sind, gegen die eigene Erkenntnistradition zu denken.