DER BODYTEXT

„Was nicht zur Lüge taugt, taugt auch nicht zur Wahrheit“ (frei nach Roberto Ecco)

Mein „Frisch gewagt ist halb gewonnen!“ versucht Kalligrafie als Körpersprache neu zu denken. Kalligrafie entstand, als es nur wenige Schriftgelehrte gab, die den Inhalt ihrer Texte schriftbildlich den Nicht-Lesenden vermittelten. Sie machten sich die Tatsache zunutze, dass der Rhythmus einer Linie als Körpersprache für sich spricht. Verzichtet die Kalligrafie ganz auf festgelegte Zeichen, spricht sie als Bodytext, widerlegt sie den Grundsatz der westlichen Aufklärung: „Ich denke, also bin ich“ (1). Das Gegenteil ist nun der Fall: „Ich bin, also denke ich“. So dass selbst in der Ignoranz des Egos die Ahnung schlummert, das Ich könne unmöglich der Weisheit letzter Schluss, unmöglich das „Ich bin“ sein. Der kognitiven Essenz muss eine spirituelle Existenz (2), dem „Da-Sein“ ein „So-Sein“, der „Logik“ ein „Logos“, dem Selbstbewusstsein das Gewahrsein im Geiste, dem Teil das Ganze vorausgehen, das ein Teil nicht kennen kann, weil es ein Teil des „Allwissens“ und nie das All ist. Ohne diese Weisheit gäbe es weder Wissen noch Gedanken, keinen Versuch, das Unmögliche aus dem Möglichen zu erklären.

So bringt der Bodytext das Nicht-Ich zurück in den Text. Das ist bereits im Gedicht der Fall, das mit dem Text aus der Zeit, aus dem linearen Denken des Historischen ausschert, so dass ein geistiger Raum für Denkfiguren entsteht, die wiederum nichts feststellen, außer, dass sie eine „geistgeborene Wirklichkeit“ sind. Dieses Phänomen ist nicht nur auf das Denken und Schreiben begrenzt, auch das Malen und der Tanz texten, fühlen sich stärker der wilden Semiotik der Denkfiguren zugehörig als der festgelegten Zeichensprache. Um die wilde Semiotik des „Pinseltanzes“ soll es hier gehen, um die Übertragung der Körpersprache in eine Bildsprache, die die von der Genialität vergessene Indigenialtät, das Unbegriffliche und Unbegreifbare wieder ins Bewusstsein rückt.

In seiner Seelenlehre „De anima“ entwickelt Aristoteles eine Theorie des „Tastsinns“, der nicht nur als haptischer Sinn die Hand prägt, sondern als solcher, wie wir inzwischen wissen, maßgeblich auch das Gehirn herausbildet. Aristoteles geht noch weiter und entdeckt in ihm, mit ihm den „inneren Sinn“ (3), einen Geist-Körper, der das Herantasten in allen Sinnen ermöglicht. Dieser Sinn ist für die Biologie (noch) Unsinn, weil für sie der Sinn nach außen gerichtet, von Außen wahrnehmend ist. In der „De anima“ wird er zum „Gemeinsinn“, der alle Sinne durchwebend „die Seele“ ist. So darf man Aristoteles „inneren Sinn“ getrost als „Herzensbildung“ verstehen: „Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.“ (4) Aristoteles´ „Tastsinn“ ist dabei beides, ein nach Außen gerichteter Sinn, der der „offenkundigen Harmonie“ (5) folgt, und ein nach Innen gerichtetes „geistiges Auge“, das die „verborgene Harmonie“ (5a) sieht.

Aristoteles entwirft in seiner „De Anima“ kein „Über-Ich“, das bei Platon als „absolute Seele“ überirdisch residiert, mit dem der Mensch durch die Idee verbunden ist. Seine Seele ist ein „Spiegel“, das was Buddha „reinen Geist“ nennt. Dieser „Hof des Geistes“ ist in die materielle Existenz eingewoben, er lässt sich weder abtrennen, isolieren noch erkennen. Im fernöstlichen Verständnis ist die Seele die „negative Ontologie“, das „Nicht-Ich“ und „Nicht-Wissen“ im „Feld der Leere“. Im abendländischen Denken ist sie eine „positive Ontologie“, der Engel des „Allwissenden“, externen „Gottes“ oder die „Psyche“ der Sozialisation. Bei Aristoteles wird sie durch den „Tastsinn“ zum „Gemeinsinn“, bei Buddha durch „Achtsamkeit“ (6) berührt. Sehend wie ein Blinder passiert das Gewahrsein das „torlose Tor“ (7) zu den „letzten Fragen“ und erkennt in ihnen das „Sich-selbst-Bewegende“ (8), den „raumlosen Raum“ (9) der Ewigkeit. Das „Von-Selbst-Bewusstsein“ (10) vollzieht das Wunder: „Die Erlösung von der Knechtschaft unter dem Zwecke“ (11). Die Bewusstheit der „Erahnung“ löst die von der Welt enttäuschte „Erinnerung“ ab und der „Möglichkeitssinn“ (12) überwindet den „Wirklichkeitssinn“ (12a). Lebendigkeit ist die einzige Möglichkeit, Wirklichkeit nicht zu erleiden, indem wir sie sind, während die Verdinglichung der Wirklichkeit die Befreiung verhindert. So ersetzt der Bodytext die gedankliche Festlegung durch die spontane Präsenz des Zeichens, wird das „Ritual“ des kognitiv gelenkten Malens oder Schreibens zur „Performance“ einer gedankenleeren Aktion.

„Sapere aude“ – „Wage es, weise zu sein!“ (13) Der „body“ ersetzt das „brain“, das „Bild“ den „Text“, die „Entstehungsform“ die „Idee“, die „Gedankenleere“ die „Erkenntnis“, das „Da-Sein“ das „Denken“. Das ist der Quantensprung in die Bewusstheit des Seins (14), in der es keine Trennung zwischen Körper und Geist, Objekt und Subjekt gibt. Obwohl der Geist im Bodytext materialisiert, die Malaktion verdinglicht ist, bleibt das „Feld der Leere“ bestehen. So dass der Pathos des Historienbildes, das Drama der zum „Gott“ kognitiv überhöhten Geste sich mit dem „Gewahrsein“ zur Komödie wendet und „von Mensch zu Mensch, im pianissimo, jenes Etwas pulsiert, das dem entspricht, was früher als prophetisches Pneuma in stürmischem Feuer durch die großen Gemeinden ging und sie zusammenschweißte“. Max Weber hätte es mir kaum verziehen, dass aus dessen Pathos über den „sublimierten Wert“ in der „Wissenschaft als Beruf“, hier ein Bathos (15) wird, doch vielleicht würde es ihn erfreuen zu sehen, dass die Zeit das Sublimat vom Pathos der Worte entkleidet und das „prophetische Pneuma“ als „gestisches Lächeln“ erscheint.

 

  • (1) Descartes´“cogito ergo sum“ übernimmt das neutestamentarische: „Im Anfang war das Wort“, das dort „Gott war das Wort“ ist, und säkularisiert es zum „Imperativ“, dem späteren „Naturgesetz“.
  • (2) Sartre: „Wenn Gott nicht existiert, so gibt es zumindest ein Wesen, bei dem die Existenz der Essenz vorausgeht, ein Wesen, das existiert, bevor es durch irgendeinen Begriff definiert werden kann, und dieses Wesen ist der Mensch oder, wie Heidegger sagt, das Dasein.“
  • (3) Unter dem Titel „Der verborgene Sinn – Archäologie eines Gefühls“ (Fischer Verlage, 2012) skiziiert der Kanadier Daniel Heller-Roazen auf über fünfhundert Seiten den Pfad, den der „innere Sinn“ durch die verschiedenen philosophischen Systeme von Aristoteles über Platon, Marc Aurel, Augustinus, Albertus Magnus, Thomas von Aquin, Bacon, Campanella, Locke, Rousseau, Condillac bis hin zu Foucault genommen hat.
  • (4) Aus „Der kleine Prinz“ von Antoine de Saint-Exupéry
  • (5/5a) Heraklit: „Nichtoffenkundige Harmonie ist stärker als offenkundige“, Reclam „Die Vorsokratiker I“, Seite 259
  • (6) Die Entdeckung der „Achtsamkeit“ geht historisch auf die buddhistische Lehre und Meditationspraxis zurück. Achtsamkeit ist ein Zustand von Geistesgegenwart, in dem ein Mensch hellwach die Verfasstheit seiner direkten Umwelt, seines Körpers und seines Gemüts erfährt, ohne von Gedankenströmen, Erinnerungen, Phantasien oder starken Emotionen gelenkt darüber nachzudenken, die Wahrnehmung zu bewerten.
  • (7) Zwischen dem Bewussten und Unbewussten steht die Achtsamkeit aus dem Bewussten kommend vor einem verschlossenen Tor, das umgekehrt, vom Unbewussten kommend ins Bewusste, nicht existiert. „Der große Pfad hat keine Tore. Tausende von Wegen führen zu ihm. Wenn einer durch dieses torlose Tor geht, so wandert er frei zwischen Himmel und Erde“ (Ekai, genannt Mumon, 1183 -1260). Folge dem „Nicht-Ich“, lehrt dieses Koan aus dem ZEN. „Lernt, nicht zu lernen“, lehrt Laotse („Tao-Te-King“, Kapitel 64/155).
  • (8) Im „Phaidros“ zitiert Platon Sokrates´ „Preisrede auf den Eros“: „Allein das Sich-selbst-Bewegende, da es ja sich selbst nie verlässt, hört niemals auf sich zu bewegen, und dies ist auch für alles andere, was bewegt wird, Quell und Urgrund der Bewegung. Urgrund ist ungeworden.“
  • (9) In seiner Schrift „Von dem Raume“ stellt Kant fest: „Der Raum ist demnach ein unbedingt erster formaler Grund der Sinnenwelt, (…) weil er seinem Wesen nach nur einziger ist, der schlechthin alles äußerlich Sensible umfasst, und folglich einen Grund der Gesamtheit ausmacht (…)“. Kant sagt hier: In welchem Raum wir uns auch bewegen, es ist immer der eine Weltraum, der uns umfasst, den wir nicht umfassen. Für uns ist er fester Bestandtteil der Sinnenwelt, deren Gesamtheit wir nicht überblicken, so dass der Verstand Eingrenzungen vornimmt. Fallen die weg, erleben wir den „raumlosen Raum“.
  • (10) Mein Wortspiel aus Sokrates: „Sich-selbst-Bewegenden“ und Nietzsches „von Ohngefähr“, in Abgrenzung zum Selbstbewusstsein, das kein „Urgrund“ – Ego ist.
  • (11) „Also sprach Zarathustra“, Reclam, Seite 155 („Vor Sonnen-Aufgang“): „Von Ohngefähr“ – das ist der älteste Adel der Welt, den gab ich allen Dingen zurück, ich erlöste sie von der Knechtschaft unter dem Zwecke.“
  • (12/12a) In seinem Roman „ Der Mann ohne Eigenschaften“ gibt Robert Musil dem vierten Kapitel die Überschrift: „Wenn es Wirklichkeitssinn gibt, muss es auch Möglichkeitssinn geben“, und schreibt dazu: „…der Möglichkeitssinn (ließe sich) geradezu als Fähigkeit definieren, alles, was ebenso gut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist.“
  • (13) Das Zitat stammt aus dem ersten Buch der Episteln (Briefe), die der römische Dichter Horaz 20 v. Chr. veröffentlichte, und wird in der Interpretation meist mit Kants: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ gleichgesetzt. Doch bei Horaz wird nicht der Verstand, sondern Sinnlichkeit bemüht; „sapere”: Weisheit erlangen, stammt aus lat.: „sap“ = „schmecken“, „riechen“, „merken“.
  • (14) Die informelle Kalligrafie hat sich vom Schriftzeichen verabschiedet, doch nicht vom schreibend gesetzten Zeichen, weil der Mensch nicht nur der von ihm selbst festgelegten Semiotik, sondern in weit stärkerem Maße der „wilden Semiotik“, den von ihm nicht festlegbaren Zeichen folgt. So ist sie „schönes Schreiben“ geblieben, bewahrt damit ihre Nachbarschaft zur Poesie, die gegenwärtig eine ähnliche Auseinandersetzung führt wie die bildende Kunst. Es gibt die Pop-Poeten, die die Erweiterung des Diskurses durch das Internet feiern. Es gibt die Zeitgeist-Poeten, die, wie Gerhard Richter in der Malerei, „mit allen Mitteln der Kunst nichts schildern“. Und es gibt die Existenz-Poetinnen, Frauen-Power, die versteht, dass wir eine Zeitenwende durchleben, in der das dualistische „Ding“, ob „Gott“, „Idee“, „Technik“, „Nichts“, sich in ein „Sowohl-als-auch“ auflöst, was nicht nur Drama, sondern zugleich auch eine Komödie ist – endlich der Tanz mit dem „DAS“. „Was ist ein Gedicht? Ein Gedicht ist nichts. Durch Beharrlichkeit kann aus einem Gedicht etwas werden, aber dann ist es etwas und nicht ein Gedicht. Warum ist es nichts? Weil es nicht angeschaut, gehört, berührt oder gelesen werden kann (was gelesen werden kann, ist Prosa). Es ist kein Ergebnis von Erfahrung, sei sie gewöhnlich oder ungewöhnlich, es ist das Resultat der Fähigkeit, innerhalb der Erfahrung ein Vakuum zu schaffen – es ist ein Vakuum und daher ist es nichts“. („Para-Riding“, Gedichte und Texte von Laura Riding) Und Monika Rinck: „DAS GEDICHT IST DA – (…) Tun Sie idiotische Dinge, lesen Sie unverständliches Zeugs! Und: Ihnen wird Zeit geschenkt, die sie als einen Prozess des Geschehens zu sehen befähigt werden. Das Gedicht ermöglicht Ihnen, einem Gedanken Zeit zu geben. Es zeigt Ihnen, wie schön es ist, immer wieder aufs Neue damit zu beginnen zu denken. (…) (Das Gedicht) vereint die sinnlichen und intellektuellen Möglichkeiten des Menschen in einem Nacheinander und Zugleich. Und erinnert daran, dass man das Ganze denken muss, denn eine Sphäre für sich allein stehen zu lassen, wäre Verrat. (…) Der Dichter John Keats sprach von Negativ Capability und meinte damit das Vermögen, im Ungewissen, Unentschiedenen auszuharren. Das ist nicht gleichbedeutend mit Zögerlichkeit oder einem Ausweichen vor Entscheidungen. Es geht um eine Toleranz gegenüber dem, was Ihnen vorerst unzugänglich erscheint, man könnte sagen: das Gegenteil von Fundamentalismus“ (aus „Risiko und Idiotie“, Fischer Taschenbuch, Frankfurt a.M., 2017, Seite 100 – 106)
  • (15) „Bathos ist da, wo wir ankommen: nicht ein Sturz, sondern das, wohin wir stürzen, kein Sinken, sondern die Senke. Es ist keine Wertschwankung, kein relatives gemein werden innerhalb des Kreislauf der Werte, sondern der absolute am Boden fixierte Wert.“ (Keston Sutherland)