ALLE FRAGEN OFFEN (EPILOG)

„Das Gewahrsein seiner selbst reicht tiefer als das Selbstbewusstsein“ (Keiji Nishitani)

Wer Kalligrafie wirklich versteht, der achtet nur auf den geistigen Rhythmus und nicht auf die Form der Schrift“ (1), hieß es im taoistisch geprägten China. Das ist lange her. In der Kulturrevolution hat Mao dem „Reich der Mitte“, einer durch das „I Ging“, „Ying-Yang“ und „Tao“ von Laotse und Konfuzius geprägten monolithischen chinesischen Kosmologie, mit der Losung „Eins teilt sich zwei“ (2) den Kampf angesagt. Mao etablierte ein dualistisches, westliches Weltbild, das der Westen als Modernisierung belächelte, weil es bäuerlich geprägt war. Heute ist China auf dem Weg westlicher, als der Westen zu werden, wenn wir als „westlich“ das reflexive und als „östlich“ das proflexive Denken verstehen…

Proflexiv denkend erlebt der Chinese oder Japaner Raum und Zeit nicht wie ein reflexiv Denkender, nicht als „Gegenüber“. Er erlebt sie im „Zwischen“, als „Dazwischen“, sich selbst als „Mittendrin“. Was wir Zeit nennen ist im japanischen und chinesischen „Zeit im Zwischen“ oder „Zwischen-Zeit“ und der Raum heißt „Leere zwischen“. In die „Leere zwischen“ schreibt der Buddhismus seine Lehre, den Grundwert aller mystischen Erfahrungen, „sunyata“, das „Nichts“ ein. So ist auch der Mensch nie bloß vorhanden, nie Ding oder Objekt an sich oder Subjekt für sich, sindern immer „nin-gen“, „Mensch zwischen“.

Das spiegelt auch die Malerei wider. Fernöstliche Malerei zielt nicht auf die expressive Form der Dinge. Nach ihrem eigenen Bekunden bringt sie als Impression die „Seele“ zum Ausdruck. Doch Seele meint hier nicht eine „absolute Idee“, sie meint „gestaltlose Welt“, „ewig Werden“. Auf der Oberfläche der Leinwand tritt nicht wie in der westlichen Malerei die exakte Form der Dinge hervor, das Ding wird vom Grundsatz: „Form ist Leere, Leere ist Form“ (3) erfasst. Kunst ist hier nicht bemüht mit allen Mitteln der Kunst nichts zu schildern, sie ist ein Nichts, das alles ist. „Li“.ist im chinesischen eine Abkürzung für „Ling Fu“ – wörtlich: „Hof des Geistes“ (4) und sie wird für den Geist in Aktion oder den Rhythmus der geistigen Natur verwendet. „Li“ oder Wirklichkeit ist das, worauf das Sehen reagiert, dem es geistig folgt. Wenn Künstler diese Wirklichkeit in ein Gemälde übertragen und deren Geheimnisse erfassen, dann reagiert der Blick Anderer darauf und der Geist Anderer begegnet sich darin. Die Reaktion des eigenen Sehens und dessen Durchdringung mit diesem Geist heißt Geist in Aktion. Wo diese spirituelle Aktion hervorgerufen wird, erreicht man die Wirklichkeit.“ (5) „Nur wer die Wirklichkeit erreicht, kann der Spontanität der Natur folgen und die Zartheit der Dinge wahrnehmen; sein Geist wird in ihnen aufgehen. Sein Pinsel wird auf geheimnisvolle Weise mit Bewegung und Stille harmonieren und alle Formen werden hervortreten. Durchdrungen vom Lebenshauch werden in einer einzigen Bewegung Erscheinung und Substanz erfasst“. (6)

Hier wird ein Phänomen beschrieben, das auch die Impressionisten und Surrealisten für sich entdeckten. Das menschliche Auge ist keine Kamera, denn unser Sehen scannt lediglich Umrisse, Fraktale (7), gebrochene, selbstähnliche Muster und fügt sie, ergänzt durch Erinnerungen, zu einer „geistgeborenen Wirklichkeit“ (8) zusammen. So reicht es dem Auge, Im- und Expressionen anzubieten, strichelten die Impressionisten ihre Eindrücke, wählten die Expressionisten geistige Farben und Formen, und die Surrealisten experimentierten mit dem Automatismus der wilden Semiotik. Immer waren es von Außen erkannte, oberflächliche, kognitiv-technische Innovationen, Ingenieurleistungen und keine Meditationstechniken, kein instinktiv-intuitives Spiel, wie das „absichtslose Tun“ der fernöstlichen Malerei.

Im westlichen Kontext ist die Kunst, die dem „WuWei“, dem absichtslosen Tun am nächsten kommt, das „Informel“ (9). Es begann furios, als Weltverlust und Ich-Behauptung. Unter dem Eindruck des zweiten Weltkrieges und des Holocaust formulierte Adorno seinen wohl berühmtesten Satz: „Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch“ (10). Nicht viel anders erging es vielen bildenden Künstlern. Sie konnten die Hochkultur des Abbildes, die mit in den Zivilisationsbruch geführt hatte, in ihren Bildern nicht fortsetzen. So suchten sie ohne Form ein neues Bild und fanden dies in ausdrucksstarken gestischen Aktionen. Für Max Ernst waren sie „Entdeckungsfahrten ins Unbewusste“ (11), für Jackson Pollock „Actionpainting“ (12), Fred Thieler „forschendes Tun“ (13) und Gerhard Richter „Zufall und Konzept“ (14).

Es verblüfft, Gerhard Richter hier als informellen Maler zu sehen, doch wenn wir das „Informel“ nicht nur als gestisches Texten, sondern auch als Texturologie, als ein Bild verstehen, das über die Textur zur Aussage kommt, dann gehören Richters abstrakt gerakelten Bilder eindeutig dazu. Richter ist auch in seinem Selbstverständnis als Künstler ein „Informeller“. In einem Interview mit Hans Ulrich Obrist sagt er 1993: „All diese Beispiele, Tachisten und Action-Painting-Artisten, Informelle und so weiter, sind für mich nur ein Teil einer informellen Bewegung, die eben vieles andere trifft. Beuys hat für mich auch das Informel, aber es fing an mit Duchamp und dem Zufall, mit Mondrian oder mit den Impressionisten. Das Informelle ist das Gegenteil der konstruktiven Qualität der Klassik, also der Zeit der Könige, der klar gestalteten Hierarchien. Du siehst Dich also in diesem Zusammenhang weiterhin als informeller Künstler? Ja, grundsätzlich. Das informelle Zeitalter hat ja gerade erst begonnen.“ – „Abstrakte Bilder sind fiktive Modelle, weil sie eine Wirklichkeit veranschaulichen, die wir weder sehen noch beschreiben können. Diese bezeichnen wir mit Negativ-Begriffen: das Nicht-Bekannte, Un-Begreifliche, Un-Endliche, und sie schilderten wir seit Jahrtausenden in Ersatzbildern mit Himmel, Hölle, Göttern und Teufeln. – Mit der abstrakten Malerei schufen wir uns eine bessere Möglichkeit, das Unanschauliche, Unverständliche anzugehen, weil sie in direkter Anschaulichkeit, also mit allen Mitteln der Kunst „nichts“ schildert.“ (15)

In der Öffentlichkeit kaum bekannt ist Richters tiefes religiöses Verständnis von Kunst: „Sich ein Bild machen, eine Anschauung haben, macht uns zu Menschen – Kunst ist Sinngebung, Sinngestaltung, gleich Gottsuche und Religion“. (Notizen 1962) – „Die Kunst ist nicht Religionsersatz, sondern Religion (im Sinne des Wortes „Rückbindung“, „Bindung“ an das nicht Erkennbare, Übervernünftige, Über-Seiende“), (Notizen 1964-65) – „Die Kunst ist die reine Verwirklichung der Religiosität, der Glaubensfähigkeit, Sehnsucht nach Gott“. (…) Die Fähigkeit zu glauben ist unsere erheblichste Eigenschaft, und sie wird nur durch die Kunst angemessen verwirklicht.“ (Notizen 1988). Dabei offenbart Richters „Kunst ist Religion“ ein dualistisches Verständnis von Transzendenz. Bei Richter ist das „Absolute“ platonisch, abstrakt, ein Jenseits, das dem Diesseits, dem „Relativen“, den Dingen entgegengesetzt, lediglich durch den Analogieschluss mit ihnen verbunden ist. In seinem Verständnis schreibt das abstrakte Bild Geschichte, indem es keine Geschichten erzählt. Narration ist tabu. Dem diametral entgegen steht das Verständnis von Transzendenz in der Kalligrafie. Hier ist das Unbegreifbare kein „Über uns“, hier ist es unter unseren Füßen, der „schwankende Grund“, auf den das Leben durch den Tod gestellt ist, eine „absolute Grenze“, die zugleich „absolute Freiheit“, ein „Feld der Leere“ ist, in dem wir sicher stehen, ohne es zu verstehen. Immer „Mittendrin“ im „Lebenleben“ steht der „Lebenskünstler“ in einem Leben, das sich selbst und nicht Gott lebt. Kunst hört auf das Werk eines Schöpfers, dessen Bildgegenstand zu sein, ist das „Sich-Selbst-Bildende“, eine „Narration ohne Sujet“, die allen gehört. Richter dagegen stilisiert sich als „Über-Ich“, das das „Sujet ohne Narration“ kennt: „Nachdem es keine Priester und Philosophen mehr gibt, sind die Künstler die wichtigsten Leute auf der Welt. Das ist das Einzige, was mich interessiert.“ (Notiz 1966)

Da lobe ich mir doch Goethes „Faust“: „Da steh‘ ich nun, ich armer Tor, / Und bin so klug als wie zuvor! / Heiße Magister, heiße Doktor gar, / Und ziehe schon an die zehen Jahr‘ / Herauf, herab und quer und krumm / Meine Schüler an der Nase herum – / Und sehe, daß wir nichts wissen können!“ (16) Der japanische Philosoph Nishitani sagt über diese Erkenntnis: „Allgemein wird das „Nichts“ dem „Sein“ entgegengestellt und fungiert in dieser Beziehung als Negativität. Damit wird es als etwas begriffen, das Nichts „ist“. Im westlichen Denken scheint dies in besonderem Maße der Fall zu sein. (…) Wenn man bei dieser Denkweise haltmacht, ist das Nichts lediglich ein Begriff, nur ein Nichts im Denken, ein „gedachtes“ Nichts. Das absolute Nichts, in dem selbst jenes Nichts „ist“ negiert wird, ist nicht bloß gedachtes Nichts, sondern das Nichts, welches nur gelebt und erlebt werden kann“ (17). Die Negation der Negation verwandelt das „Horror-Vacui“ in das „Vakuum Freiheit“, was in der Malerei augenscheinlich ist, wenn ihre Negation „absolut“, nicht nur das Gegenständliche, sondern auch das Abstrakte negiert. Dann steht sie im „Feld der Leere“. Im Geist der Nicht-Unterscheidung folgt die Wahrnehmung dem „Logos“ der Dinge, der sie in ihrer Ursprünglichkeit, als das „An-sich-Seiende“ ohne Vorder- und Rückseite, provisorisch und unreal, dadurch realer als die Logik zeigt. „Vogel fliegt und sieht aus wie Vogel; Fisch schwimmt und scheint Fisch zu sein“. (18) Hier bildet das Bild nicht ab, hier spiegelt sich in der Leere Realität, die den Geist des Menschen widerspiegelt. Die Haltlosigkeit des Geistes ist dabei die „absolute Freiheit“.

 

  • (1) Aus: Chang Chung-yuan „Tao, Zen und schöpferische Kraft“, Seite 192, München 1980
  • (2) In seiner Schrift „Über den Widerspruch“ überträgt Mao den „Historischen und dialektischen Materialismus“ von Marx und Engels in das chinesische Denken, sieht dabei Parallelen zwischen Hegels idealistischer Dialektik und dem „Ying-Yang“, grenzt sich dann aber scharf vom „I Ging“ und Konfuzius ab und verlangt eine materialistische Dialektik, die das Ideal nicht in einer orakelten Kosmologie, sondern im naturwissenschaftlich vollendeten Kommunismus sieht.
  • (3) Das Herz-Sutra im Buddhismus : „Form ist Leere, Leere ist Form. Form ist nicht verschieden von Leere, Leere nicht verschieden von Form“. 
  • (4) „Die Wirklichkeit (Li), aus der alle Dinge entstehen, wird von Fu Tsi aus dem achten Jahrhundert als „Ling Fu“, der „Hof des Geistes“ bezeichnet. Diesen Begriff benutzte Chuang Tzu als Erster; im psychologischen Sinn meint er die Tiefe des Unbewussten. Die Tiefe des Unbewussten zu erreichen heißt, die Potentialität des Hofs des Geistes zu enthüllen“, aus Chang Chung-yuan „Tao, Zen und schöpferische Kraft“, Seite 183, München 1980.
  • (5) Aus: Tsung Ping „Essay über das Malen von Landschaften“ (Quelle ebenda)
  • (6) Aus: Chang Huai „Abhandlung über Malerei“ (Quelle ebenda)
  • (7) Als „Fraktal“ hat der Mathematiker Benoît Mandelbrot 1975 die Selbstähnlichkeit von natürlichen Gebilden wie Bäumen, Wolken, Küstenlinien… beschrieben und berechnet
  • (8) Aus: Hegels „Vorlesungen zur Ästhetik“ (1835-38)
  • (9) Der Begriff Informel bezeichnet „keinen einheitlichen Stil, sondern charakterisiert eine künstlerische Haltung, die das klassische Form- und Kompositionsprinzip ebenso ablehnt wie die geometrische Abstraktion“. Christoph Zuschlag / Hans Gerke: „Brennpunkt Informel. Quellen, Strömungen, Reaktionen“. Köln 1998, S. 6. Konstitutiv ist das „Prinzip der Formlosigkeit“ im „Spannungsfeld von Formauflösung und Formwerdung“. Der Begriff fasst verschiedene abstrakte Strömungen der europäischen Nachkriegskunst zusammen und umfasst dabei „zwei differente Ausdrucksweisen – das Gestische und die Texturologien“. Rolf Wedewer: „Die Malerei des Informel. Weltverlust und Ich-Behauptung“. Deutscher Kunstverlag, München/Berlin 2007, S. 10 und 15.
  • (10) Aus: Theodor W. Adornos Aufsatz „Kulturkritik und Gesellschaft“, geschrieben 1949, veröffentlicht 1951.
  • (11) Aus: Max Ernst „Was ist Surrealismus?“
  • (12) Der Begriff geht auf den US-amerikanischen Kunstkritiker Harold Rosenberg zurück, der in den 1950er Jahren die Malerei der amerikanischen Abstrakten Expressionisten als Action Painting bezeichnete. Neuere Forschungen legen nahe, dass der Exilsurrealist Wolfgang Paalen den Begriff als erster einführte. In seiner Theorie des beobachterabhängigen Möglichkeitsraumes, die der abstrakten Malerei in den vierziger Jahren in New York neue Schwungkraft und ein einheitliches, neues Weltbild vermittelte, verarbeitete Paalen ebenso Erkenntnisse der Quantenphysik, Interpretationen totemistischer Weltauffassungen und räumliche Strukturen indianischer Malerei der Nord-West-Küste. Sein Aufsatz Totem Art philosophiert über ekstatische „Aktionen“, die in der Lage sind, eine psychische Verbindung zum generischen Gedächtnis aufzubauen.
  • (13) Fred Thieler schreibt 1962 „Zu meinen Arbeiten“: „Maler sein, heißt für mich, die Existenz eines Zeitgenossen zu führen, der den Hauptteil seines Daseins mit dem Versuch verbringt, die Impulse seines Lebens: Anregungen wie Depressionen, Intuitionen wie berechnende Überlegungen, Relationen aus Einzelerlebnissen wie Erlebnisketten, malend aufzuzeigen – oder im Malvorgang zu gewinnen. (…) So scheint mir „Malen“ ein Prozeß, dessen Wesensgehalt forschendes Tun ist – forschendes Tun als Ergebnis offener Analysen.“
  • (14) „Zufall und Konzept“ hieß ein Ausstellungsraum in der Gerhard-Richter-Ausstellung „Abstraktion“ (Potsdam 2018, Museum Barberini). „Wir sprechen hier von einem geplanten, einem kontrollierten Zufall“, so die Kuratorin Valerie Hortolani auf der Pressekonferenz.
  • (15) Der Interview-Auszug sowie alle folgenden Notizen aus „Gerhard Richter, Text – 1961 bis 2007, Schriften, Interviews, Briefe“, Verlag der Buchhandlung König, Köln 2008.
  • (16) Goethe, „Faust, der Tragödie erster Teil“, 1808, Szene: Nacht, Faust allein in seinem gotischen Zimmer.
  • (17) Keiji Nishitani, „Was ist Religion?“, insel-taschenbuch 2729 (2001), Seite 134
  • (18) Ausspruch des ZEN-Meisters Dogen