Der Nousletter IV

Der „Nousletter“ ist auch ein „Newsletter“, doch seine „News“ sind „Nous“, altgriechisch: nonverbale Vernunft, geistiges Sehen der sprachlich nicht fassbaren Wahrheit.


Wechselt die Malerei die Spur von der gegenständlichen oder abstrakten Form zur „Soheit“, zeigt sie das Leben in seiner namenlosen Fülle. Denn „Soheit“ ist „Leerheit“, wie es im ZEN heißt und bedeutet aus der Leere des bewussten Seins mit einem nicht identifizierten Bewusstsein die Formen und Inhalte des Bewusstseins zu sehen. Heißt: Das Bild wechselt von der Objektsprache der Formen zur Metasprache des Seins und ist Sein und Erscheinung zugleich – All(es). Heißt im Tao-Té-King: „Ein Bild von dem, das vor den Göttern war“. So ist „Soheit“, das Nicht-Bedingte oder das „Gehaltensein im Offenwerden“, wie Picasso es nannte. Hannah Arendt geht noch einen Schritt weiter und hebt in „Die Welt als Erscheinung“ die Trennung von Schein und Sein, Mythos und Logos, Gott und Welt auf. Doch bei ihr verschwindet die Erscheinung weder in einer Grundstruktur wie im Strukturalismus, noch in Prozessen der Neuroinformatik wie in der Naturwissenschaft. In ihrer philosophischen Aufklärung behalten sowohl die ideelle Erscheinung wie das materielle Sein ihre Eigenständigkeit als Universalien des Alls.

„Die Welt, in die die Menschen hinein geboren werden, enthält viele Gegenstände, natürliche und künstliche, lebende und unbelebte, vergängliche und dauernde, und alle haben sie dies gemeinsam, daß sie erscheinen, daß sie also gesehen, gehört, gefühlt, geschmeckt, gerochen werden sollen von empfindenden Wesen mit den entsprechenden Sinnesorganen. Nichts könnte erscheinen, das Wort „Erscheinen“ wäre sinnlos, wenn es keine Wesen gäbe, denen etwas erscheint – lebendige Wesen, die anerkennen, erkennen und reagieren können – mit Flucht oder Begehren, Zustimmung oder Ablehnung, Tadel oder Lob – auf das, was nicht nur da ist, sondern ihnen erscheint und von ihnen wahrgenommen werden soll.“ (aus Hannah Arendt „Vom Leben des Geistes“, Das Denken, I. Kapitel)

In der Welt der Erscheinung gibt es notwendig auch den „schönen Schein“, hinter dem sich das Erscheinen versteckt, mit dem es Macht über sich selbst und über andere ausübt. „Daher hat jede Erscheinung auch immer etwas Scheinhaftes: der Grund selbst erscheint nicht. Daraus folgt nicht, daß alle Erscheinungen bloßer Schein wären. Schein ist nur inmitten von Erscheinungen möglich; er setzt die Erscheinung voraus wie der Irrtum die Wahrheit. Der Irrtum ist der Preis der Wahrheit, und der Schein ist der Preis für die Wunder der Erscheinung. Irrtum und Schein hängen eng miteinander zusammen; sie entsprechen einander.“ (ebenda, Kapitel I. 5, „Erscheinung und Schein“). Und Xenophanes wusste bereits im antiken Griechenland: „Das Genaue freilich erblickt kein Mensch, und es wird auch nie jemand sein, der es erblickt hat in bezug auf die Götter und alle Dinge, die ich nur erwähne; denn selbst wenn es einem in höchsten Maße gelänge, ein Vollendetes auszusprechen, so hat er selbst kein Wissen davon“. Warum? Weil wir bewusst oder unbewusst, wissend oder nicht wissend, stets nur Teil eines Ganzen sind, das vom Teil nicht überschaut werden kann. Sodass die Erscheinung als Ganzes dem Sein als Teil den Halt verleiht, von dem es aber nicht wissen kann, warum. Sodass Sokrates für sich sagte: „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ und im Nicht-Wissen-Können seinen Halt fand

ES IST, WAS ES IST

Es war also nicht weiter verwunderlich, dass Max Ernst bereits vor hundert Jahren in seiner Schrift „Was ist Surrealismus?“ die Überwindung des Schöpfertums auch in der Malerei sah: „Als letzter Aberglaube als trauriges Reststück des Schöpfungsmythos blieb dem westlichen Kulturkreis das Märchen vom Schöpfertum des Künstlers. Es gehört zu den ersten revolutionären Akten des Surrealismus, diesen Mythos mit sachlichen Mitteln und in schärfster Form attackiert und wohl auf immer vernichtet zu haben, indem er auf die rein passive Rolle des <Autors> im Mechanismus der poetischen Inspiration mit allem Nachdruck bestand und jede <aktive> Kontrolle durch Vernunft, Moral oder ästhetische Erwägungen als inspirationswidrig entlarvte. Als Zuschauer kann er der Entstehung des Werkes beiwohnen und seine Entwicklungsphasen mit Gleichgültigkeit oder Leidenschaft verfolgen. Wie der Dichter seinen automatischen Denkvorgängen lauscht und sie notiert, so projiziert der Maler auf Papier oder Leinwand, was ihm seine optische Eingebungskraft eingibt.“

Was Max Ernst und vor ihm André Breton hier von der „écriture automatique“ einfordern, ist nichts anderes als das „WuWei“, das absichtslose Tun, das im Taoismus schon seit Jahrtausenden praktiziert. Denn China hat als schönen Schein weder einen Gott noch eine Religion hervorgebracht. Das „Land der Mitte“ hat das „Alles ist mit allem verbunden“, immer diesseitig gedacht und die Soheit als Weg im Diesseits verstanden. So ist das Credo im traditionellen chinesischen Denken ein „Weniger ist mehr“ und nicht das abendländische „Mehr ist nicht genug“. Hier muss erst einmal der „Wille zur Macht“ durch das „wiedergeborene Kind“ durch das „aus sich drehende Rad“ (alles Denkfiguren aus Nietzsches “ Zarathustra“) überwunden werden. Denn allein das „Nicht-Wollen wollen“ bringt, so Heidegger, Bewusstsein für das Unfassbare, für das zwischen – die Leere, den Rhythmus, den Klang – die Wahrheit zwischen Ursache und Wirkung hervor. „Es ist Unsinn, sagt die Vernunft. Es ist, was es ist, sagt die Liebe. Es ist Unglück, sagt die Berechnung. Es ist nichts als Schmerz, sagt die Angst. Es ist aussichtslos, sagt die Einsicht. Es ist, was es ist, sagt die Liebe. Es ist lächerlich, sagt der Stolz. Es ist leichtsinnig, sagt die Vorsicht. Es ist unmöglich, sagt die Erfahrung. Es ist, was es ist, sagt die Liebe.“ (Erich Fried).

Historisch hat die materialistische Struktur gesiegt, hat sie und nicht die Evolution der Selbstentfaltung die idealistischen Schöpfungsgeschichten abgelöst. Doch die Strukturen kommen und gehen, werden errichtet und vernichtet, während die Selbstentfaltung der Evolution bleibt. „Wer nicht das Ewige kennt, schafft sinnlos Unheil.“ (Laotse).

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