NEGATIVE DIALEKTIK

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Als „Art brut“ oder „Raw art“ definiert der Kunstbetrieb „rohe Kunst“ und erfasst mit diesen Sammelbegriffen die „autodidaktische Kunst von Laien, Kindern, Menschen mit einer psychischen Erkrankung oder einer geistigen Behinderung und gesellschaftlichen Außenseitern, etwa Insassen von Gefängnissen, aber auch gesellschaftlich Unangepassten“ (Wikipedia). Existenziell aus der proaktiven Perspektive des Nicht-Können-Könnens statt der reaktiven Sicht des Können-Könnens zeigt sich in der Art brut jedoch etwas komplett anderes: Soheit. Bewusstsein für die Wahrheit ohne Objektbezug. „Denn Wahrheit oder Schein sind nicht im Gegenstande, sofern er angeschaut wird, sondern im Urteile über denselben, sofern er gedacht wird.“ (Immanuel Kant).

Dergestalt sind Art brut oder Raw art nicht nur proaktiv, bewusst primitiv. Denn sie verkörpern nicht das moderne Können-Können, das mit mechanistischem, inzwischen digitalisierten Blick eine rationale Welt vor Augen hat und mit dem gleichen Duktus der Nachahmung Kunst betrachtet. Sie folgen dem im Offenen gehaltenen Nicht-Können-Können. Dem Weg des Indigenen. Den Laotse im antiken China einst als „Tun ohne Tun“, als „Tao“ der kosmischen Selbstentfaltung und Heraklit im antiken Griechenland als „Logos“ der freien Rede verstand. Beide meinten damit das absichtslose und spontane Nicht-Können-Können der Existenz, das keinen „Telos“ keine von der Rationalität der Existenz unterstellte Absicht, weder Ziel noch Zweck kennt. So sahen beide schon damals die Evolution nicht als Schöpfung, weder durch einen Gott noch eine Kausalität, als Selbstentfaltung des universellen Zufalls. Den der Mensch, was immer er auch anstellt oder erfindet, nie überblicken, noch nicht einmal in Worte fassen kann, weil er selbst Teil dessen ist, was er zu wissen glaubt. Sodass absurd ein wissendes Teil (Mensch) dem nicht wissenden Ganzen (Universum) im Wege steht. Bis der Wissende sein Wissen als Nichtwissen erkennt und sich – „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ (Sokrates) – als bewusstes Nicht-Können-Können erlebt. Das unterscheidet sie beide, die negative Dialektik der Naturbeobachtung von der positiven Dialektik des Eingreifens in die Natur. Den Willen zur Macht über sich selbst von dem Willen zur Macht über das/die Andere/n. Das „sich selbst wegzuwerfen, um sich selbst zu gewinnen“ (Adorno) von der Selbstverwirklichung des Können-Könnens der rationalistischen Moderne.

Geleitet von einer absoluten Idee löst die positive Dialektik „Machet euch die Erde untertan“ den Menschen nicht nur aus der Natur heraus. Sie erhebt ihn und damit sich über das Nicht-Können-Können der Natur, indem sie glaubt, dass nach der Kunstfigur Gott die künstliche Intelligenz der „Telos“ heute „Algorithmus“ ist, der die blinde Natur sehend macht. „Im Menschen schlägt die Natur die Augen auf und erkennt sich selbst.“ (Schelling). Sodass die Natur und letztlich der Mensch als Teil der Natur selbst zum Rohstoff der absoluten Idee einer zweiten Natur werden, die buchstäblich alles dem „Weiter so!“ opfert. So frisst der Wille zur Macht mit der Logik der praktischen Vernunft, dem Können-Können seine Kinder. Denn das Leben ist nie rational, immer irrational. Es wird Kierkegaard abgewandelt, der sagte „Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden“, irrational gelebt und rational verstanden. So sieht der Moderne nicht, was die Alten sahen. Sie vermieden das Wissen-Können und folgten der Weisheit des Nicht-Wissen-Könnens. Sie blieben Heimat, in der reinen Vernunft des Seins, folgten der negativen Dialektik und wagten nicht mit praktischer Vernunft den Fortschritt in die Fremde der positiven Dialektik. So war für sie das Dasein Selbstzweck, die Selbstentfaltung des Existenziellen ohne übergeordneten Sinn, Zweck oder Ziel. Während die Moderne sich dem Wissen-Können der praktischen Vernunft unterwirft und mit der positiven Dialektik „Mehrwert“ einen „Neuen Menschen“ in der „Neuen Welt“ anstrebt. So ahnten die Alten mit ihrer Intuition, was der Verstand rational nicht begreifen kann, dass in der Ohnmacht – was geboren wird, muss sterben – Wahrheit, Freiheit, Gerechtigkeit, Glück und Liebe, bereits eine freie Gesellschaft ohne Macht, ohne die Herrschaft einer Wahrheit über andere, verborgen ist.

Du musst nichts tun, alles ist vorhanden. Sagt die negative Dialektik der reinen Vernunft. „Bleib ohne tun, nichts, dass dann ungetan bleibt.“ (Laotse). Denn alles was ist, ist Teil dieser existenziellen und universellen Selbstentfaltung die nicht nur unseren Planeten, mehr als die Menschheit sich denken kann, erschafft. So wird nicht durch Wissen in Demut gegenüber dem Nicht-Wissen, dem Menschen die Kraft der Evolution, das Ohne-Macht-Sein als Intuition, als Rohdiamant in uns bewusst und das absichtslose Tun zur Tugend der Selbstentfaltung. Als die „verborgene Harmonie“, die in ihrem Nicht-Können-Können stärker ist als die „offenkundige Harmonie“ (Heraklit). Das von der Imagination eingebildete und der Rationalität berechnete Wissen-Können. So folgt der Weise dem Nicht-Können-Wollen, erlangt er im Nicht-Können-Können Macht über sich selbst und ermöglicht absichtslos die Selbstentfaltung der Evolution durch sich hindurch.

Demnach steht die Intuition im Dialog mit dem Zufall, dessen verborgenes Geschehen die Behauptungen eines offenkundigen „Telos“ widerlegen. Ohne Wertung, ohne die Schöpfung eines Gottes oder das Kunstwerk der Naturgesetze oder die technischen Innovationen der Algorithmen zu bemühen nimmt sie im Einfach-Sein den Lauf des Geschehens wahr, sieht sie in dessen Soheit, im bewussten Sein ohne Objektbezug die Wahrheit. Gedankenleer folgt sie der existenziellen Performance aus Versuch und Irrtum. Ohne Ziel. Ohne Zweck. Einfach So-Sein im Da-Sein. Das bringt die freie Assoziation und mit ihr nicht nur sie, auch den Vergleich ins Spiel. Denn mit der Assoziation kommt ein zweiter Player neben der Wahrnehmung die Erinnerung ins Feld. Anders als die Intuition hat sie nicht nur das Spontane und Flüchtige vor Augen. Sie sieht mit dem geistigen Auge das Vergangene und hat sich dieses als Vergleich eingebildet. So löst sich mit der Imagination der Geist vom Zufall und sieht im Geschehen Kausalität. Ursache und Wirkung. Die kennt auch der Zufall. Doch in ihm sind Wirkung und Ursache eins. Ein wechselseitiges Paar. Das sich erst durch die Einbildung einer Hierarchie in Gott und Welt, Mensch und Natur, Mann und Frau entzweit. Und nicht nur das. Indem die Imagination das durch sie Erkannte über das Spontane erhebt, wird aus der erkennbaren Wirkung die auf die Wirklichkeit als Ursache verweist, eine erkannte Ursache deren Wirkung Spekulation ist.

„Die Torheit der westlichen Neuzeit besteht darin, die eigene Vernunft zur souveränen Macht zu erklären, obwohl sie lediglich ein Moment, ein Aspekt des Denkens ist. … (Sie) hat sich als Herr und Besitzer der Natur begriffen und dabei ein verkehrtes Menschenbild durchgesetzt, unter Festschreibung des Primats der Quantität gegenüber der Qualtät, des Habens gegenüber dem Sein.“ So der wohl bedeutendste Denker des afrikanischen Kontinents, der senegalesische Schriftsteller und Philosoph Felwine Sarr.

So behauptet die rationale Kausalität: „Zufall gibt es nicht!“ So vergisst der kognitiv denkende Mensch was Kant in seiner „Kritik der reinen Vernunft“ so treffend formuliert: „Die Ordnung und Regelmäßigkeit an den Erscheinungen, die wir Natur nennen, bringen wir selbst hinein, und würden sie auch nicht darin finden können, hätten wir sie nicht, oder die Natur unseres Gemüts ursprünglich hineingelegt.“ Denn die Wahrheit ist zu allen Zeiten gleich das Nicht-Können-Wissen, während die Ursache kulturell stets neu behauptet wird. Man schaue sich nur den Fortschritt der Wissenschaften an, die die Erkenntnis der Ursache nur noch bis zu ihrer Widerlegung behauptet. Allein in der vom Menschen beherrschten Technik scheint es anders zu sein. Denn ihr Gründungsmythos ist die festgelegte Ursache als Wahrheit einer „Neuen Welt“ deren Wirkungen, man denke nur an das Scheitern des wissenschaftlichen Sozialismus, die Klimakatastrophe oder das Artensterben, nicht beherrschbare Folgen haben. So bleibt materiell und geistig alles im Fluss, bildet die Imagination die Mythen, erklärt sie sich die Kausalität in immer neuen Verschwörungstheorien. Denn das ursächliche Bild fällt als wildes Zeichen dem Menschen unfassbar zu. Wir machen die Augen auf und es ist da. Wir machen die Augen zu und es bleibt. Doch nicht nur das. Es modifiziert sich von selbst. So ist dieses Bild ohne Anfang und ohne Ende, weder Telos noch Idee nicht vom Menschen durch ihn hindurch da.

Das ursächliche Bild ist leer. Nicht weil es nichts ist. Weil das Nichts nicht denkbar ist. So wird das Ursächliche dem Menschen erst bewusst, wenn es vergangen ist. Wenn das Besitzlose durch Form und Inhalt in Besitz genommen, das Wilde durch das festgelegte Zeichen ersetzt ist. So beherrscht der Vater Himmel als Telos den Geist der Mutter Erde. So verkündet die Bibel „Du, sollst dir kein Bildnis machen“, denn Gott ist die Idee, die dem Menschen verbietet, in den Apfel vom Baum der Erkenntnis zu beißen. Das klingt aus heutiger Sicht mit dem Wissen, auf welche Ideen Menschen kommen können sogar vernünftig, kaschiert jedoch den Sachverhalt. Den Sieg des Patriarchats und mit ihm der positiven Dialektik über das Matriarchat und die negative Dialektik. So gebar der Mann, der körperlich nicht gebären kann, die Idee der intelligiblen Welt. Sie kam ihm im Traum, als er sich fragte: „Bin ich der Schmetterling, den ich träume oder träumt der Schmetterling mich?“. Da verstand er die Macht der Bilder, indem er den Traum als zweite Natur deutete. Konfrontiert mit der ersten Natur mutierte sie zur absoluten Idee, erlangte zunächst der alleinige Gott schließlich dessen Ebenbild Allmacht. Mit dem „Sapere aude! – Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“ (Kant) stellte die Urteilskraft der rationalen Aufklärung die Gewaltenteilung wieder her. Doch die Dualität zwischen Mensch und Natur, Körper und Geist, Mann und Frau blieb bestehen. So brannte sich die zweite Natur als intelligible Welt, zunächst als Gott, dann als Genie, heute als KI in das Bewusstsein der Menschen ein. Als ein Bild das Macht hat, weil niemand es machen kann, weil es als Erscheinung des Seins aus der Unterwäsche der ersten Natur von selbst erscheint.

Trifft der Traum auf die Realität erhebt sich die Vertikalspannung der Imagination über die Horizontalspannung der Intuition. Mit diesem Moment ist nicht nur der Telos, der Zweck geboren der die Mittel heiligt. Mit ihm erobert die Dualität und mit ihr die Kausalität das Denken. Sodass fortan ein „Über-Ich“ als „absolute Seele“ das Geschehen lenkt. War die Moral von der Geschicht zunächst noch der alleinige Gott wurde es mit der Säkularisierung der Universalismus. „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ (Kant). So erreichte die positive Dialektik der praktischen Vernunft, wenn auch nicht durch die Kraft eines aufklärten Bewusstseins mit der technischen Innovation des World Wide Web, den hegemonialen Sieg der intelligiblen Welt über die negative Dialektik der Existenz. Dreiviertel aller Menschen besitzen heute ein Smartphone, was weder der christlichen Mission mit der Bibel, noch dem „Proletarier aller Länder vereinigt euch!“ mit dem Kommunistischen Manifest gelang.

Dergestalt hatte und hat der Mensch Mut, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, denkt er sich heute weder als Teil der Natur noch als Ebenbild Gottes, sieht er sich, wie die rationale Aufklärung es gefordert hat, als Menschheit und nicht mehr nur als Mensch. Doch aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit hat er sich damit nicht befreit! Weil das Wissen der praktischen Vernunft statt irgendwann alles zu wissen mit jeder Differenzierung ein noch größeres Nicht-Wissen schafft. Das will der praktisch Vernünftige aber nicht wissen und so irrt er weiter. Dem Abgrund entgegen. So ist der Moderne noch immer ein trüber Gast auf der dunklen Erde. Weil er vergessen hat was Goethe „Selige Sehnsucht“ nannte, das „Stirb und werde!“. Das Leben ist kein Haben, es ist Sein. Das So-Sein im Da-Sein, das durch nichts und niemand zu haben ist. Sodass mit dem Fall der Mauer, mit dem Durchbruch des Bewussten in das Unbewusste hinein das Sein und das Erscheinen sich wieder vereinen, das Lebenleben aus reiner Vernunft beginnt. Denn der Mensch ist alles auf einmal: Intuition, Imagination, Intellekt und das nur, wenn er keins von dreien sein will. Nur dann zerlegt der Mensch sich nicht selbst lebt er mit sich und seiner Natur in Frieden und zerstört für sein Glück nicht den Planeten Erde.

„Der Fortschritt ereignet sich dort, wo er endet.“ Mit diesem Gedanken schockte Adorno schon vor 60 Jahren die an den Fortschritt glaubenden Gemüter. Wo kommt der Fortschritt her? Wenn das Leben keinen Fortschritt hat, die Wiederkunft des immer Gleichen ist? Also sprach Zarathustra „Alles geht, Alles kommt zurück; ewig rollt das Rad des Seins. Alles stirbt, Alles blüht wieder auf, ewig läuft das Jahr des Seins. Alles bricht, Alles wird neu gefügt; ewig baut sich das gleiche Haus des Seins. Alles scheidet, Alles grüsst sich wieder; ewig bleibt sich treu der Ring des Seins. In jedem Nu beginnt das Sein; um jedes Hier rollt sich die Kugel Dort. Die Mitte ist überall. Krumm ist der Pfad der Ewigkeit.“ Auf diesem krummen Pfad der Ewigkeit kann Fortschritt nur quantitativ Konsum sein und damit kein tatsächlicher, oder er wird, indem er den krummen Pfad nicht mehr begradigt, qualitativ. „Ein aus sich rollendes Rad.“ (Ebenda). So zeigt Art brut mit den Worten von Gerd Presler „Werke von Personen, die durch die Künstlerkultur keinen Schaden erlitten haben, bei denen also der Nachahmungstrieb, im Gegensatz zu dem, was bei den Intellektuellen geschieht, wenig oder keinen Anteil hat, so daß die Autoren alles (Gestaltungsgegenstand, verwendetes Material, Mittel der Umsetzung, Formelemente, Schreibarten) aus ihrem eigenen Inneren holen und nicht aus den Schubladen der klassischen Kunst oder der Kunstrichtung, die gerade in Mode ist.“ („L’ Art brut. Kunst zwischen Genialität und Wahnsinn“).

„Der intuitive Geist ist ein heiliges Geschenk und der rationale Verstand ein treuer Diener. Wir haben (jedoch) eine Gesellschaft erschaffen, die den Diener ehrt und das Geschenk vergessen hat.“ (Albert Einstein).