Herrschaftsfreie Kunst (Zehn Thesen)

 

1.

„Der Maler muss im Bild verschwinden“, lautet eine Maxime in der taoistischen Tradition der chinesischen Landschaftsmalerei. Die Rezeption der westlichen, modernen Kunst sieht darin ein „offenes Bild“, das durch Material und Technik selbsterklärend ist. So wurde aus dem intrinsischen Verschwinden des Malers im „absichtslosen Tun“, die extrinsische „Umkehr“ zum „Malprozess“: Jackson Pollock tanzte mit tropfender Farbe durch das Bild, Kazuo Shiraga malte am Seil hängend mit den Füßen und Gerhard Richter machte aus dem „Informel“ ein „Zufallsprinzip“. Für mich ist das „Informel“ ein „Weniger ist mehr“. Mehr durch Leere, wie der Spiegel, in dem sich alle Spiegel zu einem Spiegel spiegeln. Es ist „absichtslos“, wie das taoistische, „voraussetzungslos“, wie das abstrakte, weder Gut noch Böse „herrschaftsfrei“.

2.

„Die Herrschaft muss im Bild verschwinden“, heißt: Wir dekonstruieren die „Einhegungen“ unserer „Sachherrschaft“, mit denen der Mensch die Natur, das Wilde, Spontane, Lebendige und damit sich selbst als „Sache“ einhegt und sehen jenseits von Gut und Böse nicht nur das Bild, die Welt, uns selbst „herrschaftsfrei“ – „wer wir nie waren“. Gelingt das, hört die „Sprache des Körpers“ auf „Sklavin“ eines „Herrn“, des „Gott“ im Himmel oder des „Brain“ auf Erden zu sein. Plötzlich entdecken wir, dass wir nicht nur eine „Körpersprache“, auch eine „Körperschrift“ haben, die als „Bodytext“ Bild ist. Denn im Anfang ist nun nicht mehr das „Wort“, nicht mehr die „absolute Idee“, die aus einem „Jenseits“ über Weltall, Erde, Mensch herrscht, noch das „absolute Ich“, das aufgeklärt und säkularisiert die Welt beherrscht und mit „Menschenrechten“ den Menschen vor seinem größten Feind, vor sich selbst, schützen will. Denn im Anfang ist jetzt, welch Wunder, die „Geburt“. Die „direkte Mimesis“, mit der wir in der „Selbstentfaltung des Universums“ unsere „Nichtigkeit“ als „Selbstwirksamkeit“ entdecken. Oder wie es in der alt-chinesischen ZEN-Geschichte „Der Ochse und sein Hirte“ heißt: „Ein Spiegel spiegelt sich in allen Spiegeln, alle Spiegel spiegeln sich gesammelt in einem Spiegel. Dieses Spiegeln ist die Wirklichkeit der wirklichen Welt“.

3.

„Der Weg ist ewig ohne Tun; aber nichts, das ungetan bliebe“, heißt es im „Tao-Te-King“ des Laotse. Heißt übersetzt: Das „Lebenleben“ ist die „Selbstentfaltung“ seiner „Selbstwirksamkeit“. Geschieht das als „Planet Erde“ auf dem Planet Erde – „Ist nichts, das nicht regiert würde“ (ebenda). Denn Laotse hat in seinen Betrachtungen den „ersten Menschen“, den „Homo sapiens“ – lat.: den „verstehenden, verständigen, weisen, gescheiten, klugen, vernünftigen Menschen“ – den „Anfängergeist“ vor Augen und nicht den „Expertengeist“, den „letzten Menschen“, den „Homo faber“ – lat.: den „Schaffenden, Zweckgerichteten, Systematischen, Industriellen, Kulturellen“, der sich als „Planet Erde“ vom Planet Erde verabschiedet hat und ihn aus dem Weltraum betrachtet. Doch der eine Spiegel, in dem sich alle Spiegel spiegeln, hängt weder an der ISS noch im Louvre, er ist auch nicht auf Instagram oder Amazon, nicht die dunkle Seite des Mondes. Er ist das Lächeln eines Babys, der Glanz in den Augen einer Ekstase, ebenso das entspannte Gesicht einer Leiche… Nichts anderes als ein „So-Sein“, ein „Da-Sein in vierter Person“, zeigen die Buddha-Statuen, die wir im Baumarkt kaufen, in den Garten oder das Wohnzimmer stellen. Das „offene Bild“ hat unendlich viele Gesichter und keines von ihm kann als Bild festgehalten oder wissenschaftlich festgestellt werden. Es ist „offen“, weil es „herrschaftsfrei“ ist und weder von einem Diesseits noch Jenseits „eingehegt“ werden kann.

4.

So ist das „erste Prinzip“ einer „herrschaftsfreien Weltanschauung“ weder Symbol, Bild, Wort, Tat noch eine Erleuchtung es ist „voraussetzungslos“. Es ist notwendig das „So-Sein“, das „Da-Sein in vierter Person“, der eine Spiegel, der alle Spiegel spiegelt. Die Auseinandersetzung mit einer „Leere“, die nichts „einhegt“ und nichts „erschafft“, weder ein Nichts, Gott, Schicksal, Selbst, Man, Karma, Tao, Buddha, ZEN, Glaube, Wissen, Technik, Philosophie, Kunst, Poesie, Paradies, Anfang oder Ende. Es ist die „Leere“, die im „Lebenleben“ zur „Lehre“ wird. Wir wussten nicht, dass wir gezeugt wurden, haben kein internes Wissen über unsere Geburt und wissen nicht wann und wie wir sterben werden. Ja, wir wissen nicht was morgen, was heute Abend ist. Das existentielle Nichtwissen bestimmt unser Leben und bedroht es nicht, es verleiht ihm das „Lächeln“, die „Schönheit“ und „absolute Freiheit“, doch der „Schaffende“ in uns, der „homo faber“, will forschen, analysieren, feststellen, kontrollieren, kultivieren, herrschen, fürchtet so die „Leere“ als „horror vacui“. So verhaftet uns der „Appetitus“, das Streben der Seele nach anderen Seinsformen in Trugbildern, glauben wir an Feststellungen, Vorbestimmungen und Verschwörungen. So bleiben wir in der „Illusion“ verhaftet und machen aus ihr die „perfekte Illusion“das „Ego“, unseren „Herrn“. Der getrieben durch die Angst vor der Angst die „perfekte Illusion“ zu verlieren, „alternativlos“ von uns das „Weiter so“ fordert, statt ganz entspannt, wie die Blume am Wegesrand, wie der Vogel im Flug, aus dem „ersten Prinzip“ heraus, mit dem Urvertrauen vor der Geburt, auch nach der Geburt in „absoluter Freiheit“ zu leben.

5.

Die früh-zeitlichen Kulturen haben das „erste Prinzip“ – das „altruistische Da-Sein“ – nicht ignoriert, sie konnten sich die Natur noch nicht untertan machen, weder war der „Appetitus“ in ihnen erwacht, noch der „Mehrwert“ erkannt, der durch „Forschung“ und „Technik“ eine andere „Seinsform“ als das „Zeugen und Gebären“, „Sammeln und Jagen“ materiell ermöglicht. Ihr „Fortschritt“ war ein „ideeller“. Sie haben das „Nicht-Ich“ idealisiert und im „Nichtwissen“, das im „Traum“ uns bebildert erscheint, die „kosmische Ordnung“ gesehen. So entdeckten sie „Prinzipien“, die sie durch „Opfer“ und „Ekstasen“ erkundeten. Das „Eine“, dessen „Entfaltung“ sie dabei erkundeten, war für sie „altruistisch“ und keine „Selbsterfahrung“, denn das „Selbst“ war weder als „Ich“ erwacht, noch zum „Ego“ materialisiert. So nannten sie das „Nicht-Ich“ in China das „WuWei“ oder „Tun ohne tun“ (Laotse), in Südafrika, bis heute in mündlicher Überlieferung „Ubuntu“: „Ich bin, weil du bist“ oder „Band des Teilens“. Stets wird das „Eine“ dabei „bi-polar“ gesehen, gelebt, verstanden, als „Gegensatz“, der in sich und für sich das „Eine“ ist. Wie das Wetter, dessen Hochs und Tiefs durch das Streben nach Ausgleich entstehen, miteinander ringen, sich selbst besiegen, indem sie sich im „Einen“ auflösen. Diese kosmische „Zwei-Einheit“ trägt auch der moderne Mensch noch immer in sich. Indem er als Fötus und Säugling aus ihr geboren wurde und unbewusst versucht, mit allem was er postnatal bewusst denkt und macht, diese Bindung wieder zu realisieren. So kann aus den „kosmischen Prinzipien“ die Maxime abgeleitet werden: „Du musst nichts tun, alles ist vorhanden“, die „Selbstentfaltung des Universums“ durchdringt alles und alle.

6.

Der Fortschritt in das „Ego“, vom altruistischen zum egoistischen Tun, hat die „kosmische Ordnung“ gesprengt, indem er über der „beseelten Natur“ auf Erden ein „Pantheon der Götter“ errichtete, das aus dem Jenseits auf das Diesseits schaut und es regiert. Aus diesem „Über-Ich“ wurde das „Reich“ des einen und allmächtigen Gottes, der den Menschen als dessen „Ebenbild“ auf Erden sah. So stolziert das maskuline „Genie“ als „Gott auf Erden“ und verkauft seine „Genialität“ als „Schöpfung“, dessen „Kopie“ als „zweite Natur“ und die „Robotik“ als „dritte“. Doch all das war und ist nur möglich indem der „heidnische Glauben“ an eine „beseelte Welt“, das „naive Vertrauen“ in die „Natalität“, in die „Selbstentfaltung“ einer „Selbstwirksamkeit“ durch die „weibliche Geburt“, konsequent ausgerottet wurde. So thront der „Phallus“ über dem „Schoß“, ist der „Erzeuger“ der „Ernährer“, das „Genie“ mehr wert als das „Indigene“, das „Über-Ich“ intelligenter als das „Es“, der „Herr“ wichtiger als das „Weib“, ist der Mensch von der Natur abgespalten, liefert sie lediglich die Kulisse für seinen Film, der ihn befugt und befähigt die Natur als „Rohstoff“ zu bejagen und zu begraben. Das „absolute Eigentum“, das der Kapitalismus juristisch erschaffen hat, beinhaltet auch dessen Vernichtung. Dieser barbarische Akt vollzog sich nicht nur historisch in den christlichen Missionskriegen gegen das Heidentum, ebenso in den Kolonialkriegen der Aufklärung, in denen die Welt und deren Bevölkerung von den Weißen nicht nur vermessen, aufgeteilt und eingehegt, in Sklaven der weißen Sachherrschaft verwandelt wurden. Hier hat die „Rasse“ ihren Ursprung. Wissenschaftlich, biologisch und philosophisch von der rationalen Aufklärung begründet, gehört sie, inzwischen verschleiert, noch immer in den Werkzeugkasten der weißen „Weltherrschaft“. Bis heute lässt sich die (Lohn)Sklaverei, die Sachherrschaft und der Phantombesitz gegenüber den Frauen, Schwarzen, Indigenen und Nicht-Privilegierten, darauf zurückführen. Doch nicht nur das, die Privilegierten verteidigen die „Weltherrschaft“ und damit die formal abgeschaffte, perfide fortgesetzte „Sklaverei“, als den von ihnen erschaffenen „Wohlstand“ und „Fortschritt“, obwohl auch sie längst Sklaven ihrer eigenen „Sachherrschaft“, der „digitalen Revolution“ geworden sind. Nicht weil das „Indigene“ besonders „roh“, „wild“, „chaotisch“ ist, weil das in uns Eingeborene „weiblich“ ist und aus „patriarchaler Sicht“ besonders „roh“ mit ihm umgegangen werden muss. So behauptet das „Patriarchat“ bis in den heutigen Tag die „Herrschaft“, indem es die „Maieutik“, das „Geburtswissen“ – „Ich weiß, dass ich nicht weiß“ – in „Herrschaftswissen“ – „Ich weiß, dass ich alles weiß“ verwandelt. So denkt das „Ego“ in Begriffen, Fakten, Zahlen, während das „Nicht-Ich“ begreift, so wird aus dem launischen „Wetter“, das wir real erleben, das „Klima“, doch nicht das konstante Klima, das wir aus Erfahrung kennen, das „Klima“, das wir als „Statistik“ erfassen und mit ihr eine „Sachherrschaft“ errichten, die uns als „theoretische Physik“ exakt den „menschengemachten Klimawandel“, dessen exponentielles Wachstum seit der Industrialisierung vor Augen führt und zugleich mit dem „Herrschaftswissen“ der „Statistik“ dem Menschen die Luft zum Atmen nimmt. Was geschieht wenn wir das 1,5 Grad Ziel nicht erreichen?… Der patriarchale „technische Fortschritt“ hat „das System“ in eine ausweglose Situation mannöveriert: Als kapitalistische Moderne steht es vor dem Abgrund und als sozialistische Alternative hat es sich verabschiedet…

7.

Gleich zwei „Trugbilder“ halten den menschlichen Geist gefangen das „Über-Ich“ und das „Ich“. Bezogen auf das „Strukturmodell der Psyche“, dem „Es, Ich, Über-Ich“ von Sigmund Freud, ist das „Ich“ der „Homo sapiens“, der als „Überbau“ über dem „Es“, über dem wilden und triebhaften „Tier“ in uns gedacht wird und ihm die Zügel anlegt, der „Homo faber“ ist dabei sein „Über-Ich“, sein „Ziel“, die „Selbstoptimierung“. So drückt das „Strukturmodell“ nicht nur die „Vertikalspannung“, das „Top-down – Bottom-up“ aus, mit dem sich der „Homo faber“ über die „Evolution“ und damit über sich selbst, über den „Homo sapiens“ erhebt. Es zeigt auch die „Sorge“, die „Angst vor der Angst“, von der die „rationale“ und „westliche Aufklärung“ getrieben ist, denn sie hat das „Es“, das „Tier“ und damit das „Wilde“ von sich, vom „Ich“ und „Über-Ich“ abgespalten und integriert es nicht als „Nicht-Ich“, nicht als Teil von sich selbst, in ihre Kultur, wie es alle anderen Kulturen weltweit getan haben. Wird diese „Sachherrschaft“ und dessen „Phantombesitz“ dekonstruiert, erscheint nicht nur der „Homo sapiens“ als „Es“, als „Nicht-Ich“ und „Selbstwert“, der das „Ich“ als „Selbstbewusstsein“ hervorbringt. Damit wird zugleich das „Es“, der „nonverbale Körper“, das „Tierische“ und „Wilde“ in uns, „verstehend, verständig, weise, gescheit, klug, vernünftig“. Von diesem Fundus aus erscheint das „Über-Ich“, das intellektuelle und imaginäre Streben der Seele nach anderen Seinsformen, als „unnötig“ und „unnütz“ und wird vom aufgeklärten Verstand schnell als „Trugbild“ verstanden.

8.

Die Auflösung der zweiten „Illusion“ ist komplizierter, denn sie berührt mit dem „Ich“ direkt unsere „Haut“. Von Außen betrachtet hat jedes Individuum eine „Identität“, ein „Ich“, mit dem sich der „Weltinnenraum“ als „Seele“ gegenüber dem materiellen und körperlichen Außen abgrenzt. Doch das ist lediglich eine Zusprechung von Außen und keineswegs eine „feste Burg“. Schaut die Hirnforschung in uns hinein findet sie noch nicht einmal eine Lokalisation, die als ein „Ich“, „Seele“ oder „Identität“ definierbar wäre. Denn das „Ich“ ist „leer“. Es ist „Inter“ – „Zwischen“. Eine „Fuge“, die nicht ist, die wird. Das „Ich“ ist Bildung, doch kein „Nürnberger Trichter“ mit dem das „Weltwissen“ unser „Ich“ wird. Es bildet sich, wie das Kind uns lehrt, aus dem „selbstwirksamen Spüren“ zum „selbständigen Denken“. Dabei ist die Wahrnehmung der fünf Sinne noch „altruistisch“. Sie ist „selektiv“, doch nicht weil ein „Ich“ das will, weil der „Sinn“ nicht anders kann. Er ist offen für alles, muss selektieren, damit er sich konzentrieren kann. So tasten die „Sinne“ sich „altruistisch“ vor und begreifen in freier Rede nicht nur das „Inter“, die „Fügungen der Existenz“. Sie bilden dabei das Gehirn und mit ihm, in ihm den „sechsten Sinn“ – das „Denken“ – heraus. Einen Sinn, den wir getrost „Unsinn“ nennen können, denn er hat, im Gegensatz zu den fünf Sinnen, keine eigene, unmittelbar, direkte Wahrnehmung. So orientiert er sich auch nicht am „Logos“, nicht an der spontanen Ordnung des Universums, seine Orientierung ist die „Theorie“. Die muss, damit sie nicht „bloße Phantasie“ ist, eine spontane „Erinnerung“ und „Folgerichtigkeit“ enthalten. Die „Erinnerung“ besorgt das „Es“, indem es mit dem zentralen Nervensystem das Körperbewusste nach dessen Befindlichkeiten befragt. Dabei übermittelt der „Darm“, unser „erstes Gehirn“, das „Generve“ an das „Gehirn“, das im „Denkraum“ Kopf die „Gefühle“ als neuronale Verschaltung spiegelt. Bis hier hin ist alles „intersubjektiv“, „altruistisch“, „nonverbal“, „ganzheitliches Tun“, doch dann kommt es zum Quantensprung, zur Ausbuchstabierung der „Gefühle“ und damit zur Konstituierung eines „Ich denke“, das mit dem „Gedanken“ sich als „Ich“ und mit ihm ein „zielgerichtetes“, „selektives“, „egoistisches Handeln“ hervorbringt. So bildet sich nicht nur das „Ich“, mit ihm zugleich eine neue „Weltordnung“, die „Logik“ heraus. Denn das Denken unterhält zwar einen „Denkraum“, hat im Gegensatz zum „Traum“ jedoch keine „räumliche Wahrnehmung“, so dass die „Folgerichtigkeit“ der „Erinnerungen“ nicht „räumlich“, lediglich „zeitlich“, nicht „zyklisch“ – „linear“, nicht „bildlich“ – „wörtlich“, als „Davor-Danach“ ausgelesen werden. So kommt es zu einer paradoxen „Kopfgeburt“, die wissenschaftlich, als „Sachherrschaft“, alles was existiert verdinglicht und mit dem Mantra „Wissen ist Macht“ in „Phantombesitz“ verwandelt und zugleich das krasse Gegenteil sein kann, in „poetologischer Dichtung“ die eigene „Fiktion“ sehend,“herrschaftsfrei“ –  die „zärtliche Erzählerin“.

9.

Der „Denkraum“ kann getrost als „Höhle“ verstanden werden, in dem das besitzergreifende Denken ewig verharrt. So lässt sich auf unser modernes, digitales Denken, noch immer das „Höhlengleichnis“ von Platon anwenden. Mit ihm als Folie kann Kants Leitspruch: „Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“, die Höhle lediglich zum Luftschloss renovieren, aus dem wir die Realität noch immer als Schatten unserer verstandesgemäßen Einhegungen verstehen und fieberhaft, inzwischen mit digitaler Technik, daran arbeiten, Licht in das Dunkel zu bringen, das wir uns selbst erschaffen, indem wir den Sinnen das Vertrauen entziehen. Weil die Sinne uns täuschen schlußfolgert Descartes: „Ich denke, also bin ich.“ So übersieht der Mensch die „Trugbilder“, die das Denken produziert. Sinne täuschen sich, doch sie täuschen sich an der Realität und kommen in der Realität damit nicht weit. Sie müssen sich korrigieren. Anders das Denken. Es täuscht sich, doch es täuscht sich durch sich selbst. So ist es für das Denken existentiell den Fehler zu eliminieren. Doch was ist der Fehler, wenn das Denken selbst der Geburtsfehler ist? Die „Logik“ zieht daraus in ihrem „ersten“ mathematischen Satz den Schluss, den „Widerspruch“ auszuschliessen: 1+1= 2. Erst im „zweiten“ Satz, der die Entitäten vergleicht, taucht der Widerspruch als Einheit auf: 1+1=1. Mensch plus Mensch bleibt Mensch. So verirrt sich das Denken immer tiefer in seine „Höhle“ hinein und glaubt, indem es die Aufklärung verteidigt, alles „richtig“ zu machen. So mutiert die „Logik“ zum „System“ das die „Neue Welt“ erschafft, in der der „Neue Mensch“, dem „Prinzip Hoffnung“ folgend, einer Zukunft entgegen fiebert, in der er nicht ankommen darf. Denn das wäre das „Ende der Geschichte“, nicht nur seines Lebens, des Lebens überhaupt. So wird die „Höhle“ zum „Labyrinth“, aus dem das Denken keinen Ausweg findet. Denn der Ausweg ist, wie Platons „Höhlengleichnis“ lehrt: „voraussetzungslos“. Platon verweist damit auf den Wesenskern seiner Philosophie, das „Reich der Ideen“, mit dem er das „Phanteon der Götter“ säkularisierte. Wie die Götter aus heiterem Himmel mit den Gläubigen sprechen, taucht nun die „Idee“ als „Intelligibilität“, ohne Wahrnehmung ohne Denken als „absolute Seele“ im Geist auf und weist mit seinen „Elementarteilchen“ den Weg. Freud sieht in ihnen das „Über-Ich“, das die „absolute Wahrheit“, Moral und Ethik kennt und in uns bildet. Dekonstruieren wir das „Top down“ der „Vertikalspannung“, bleibt vom Budenzauber der „Hierarchien“ das „Bottom up“, die „Selbstentfaltung“ einer „Horizontalspannung“ – das„Band des Teilens“. Das lehrt: Die „Intelligibilität“ ist weder eine „absolute Seele“, noch das „Reich der Ideen“, es ist der „Dialog“ mit den „Elementen“ des Lebens, der sich als „Spiegelung“ vollzieht: „Ein Spiegel spiegelt sich in allen Spiegeln, alle Spiegel spiegeln sich gesammelt in einem Spiegel. Dieses Spiegeln ist die Wirklichkeit der wirklichen Welt“.

10.

Wenn Fortschritt der Schritt nach vorn ist, ist vor dem Abgrund stehend, weniger mehr. Wer jetzt „Fortschritt wagen“ verkündet, hat nicht nur ein schlechte Werbeagentur, spekuliert mit dem „Green Deal“. Doch die Natur lässt nicht mit sich verhandeln, sie erzwingt ein „Wenn – dann!“. Die  Katastrophe ist da, sie ist nicht mehr aufzuhalten. Die Frage ist, wie gehen wir mit ihr um? „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch“, sagt Hölderlin. Doch wie sieht das Rettende aus, wenn die menschliche Existenz auf dem Spiel steht? Unspektakulär. Ein simpler Faden. In der griechischen Mythologie ist der „Ariadnefaden“ ein Geschenk der Prinzessin Ariadne, Tochter des kretischen Königs Minos, an ihren Geliebten Theseus, den Sohn des Aigeus, König von Athen, der, um die Athener von einer Schmach der Kreter zu befreien im „Labyrinth“ auf Kreta, den „Minotaurus“ töten soll. Mit Hilfe seiner Geliebten, die ihm Schwert und Faden gibt, findet Theseus den Weg durch das „Labyrinth“, tötet das „Ego“ – den „Mann mit Stierkopf“ – und kommt entlang des Fadens wieder aus dem Labyrinth. Verstehen wir den „Faden“ als „Spur der Liebe“ und das „Schwert“ als „Macht der Liebe“, erfüllt die Liebe nicht den „romantischen Traum“ vom „Paradies“, sie macht exakt das Gegenteil: Sie zerstört „wie der Nordwind den Garten“. So Khalil Gibran in seinem Poem „Der Prophet“. Sie tötet, „...damit du die Geheimnisse deines Herzens kennenlernst und in diesem Wissen ein Teil vom Herzen des Lebens wirst“ (ebenda). Sehen wir den „Ariadnefaden“ als Geschenk, das das Leben uns macht, ist die „konstruktive Dekonstruktion“ der Weg aus dem „Labyrinth“, der „tatsächliche Fortschritt“ indem „wir wieder werden, wer wir nie waren“ (Foucault). Die „vierte Person“, das „selbstlose Pronom“, wie es Olga Tokarczuk, Schriftstellerin und Literatur-Nobelpreisträgerin 2018, in ihrer Nobelpreisrede beschreibt:

Das ist ein Standpunkt, eine Perspektive, von der aus alles gesehen werden kann. Alles zu sehen bedeutet, die ultimative Tatsache anzuerkennen, dass alle Dinge, die existieren, wechselseitig zu einem einzigen Ganzen verbunden sind, auch wenn uns die Zusammenhänge zwischen ihnen noch nicht bekannt sind. Alles zu sehen bedeutet auch, eine ganz andere Art von Verantwortung für die Welt anzunehmen, denn es wird offensichtlich, dass jede Geste >hier< mit einer >Geste< dort verbunden ist, dass eine in einem Teil der Welt getroffene Entscheidung sich in einem anderen Teil der Welt auswirkt, und dass die Unterscheidung zwischen >meins< und >deins< anfängt, strittig zu werden.“

(Dezember 2021)