Lob der „vierten Person“?

 

DIE IRRATIONALE VERNUNFT


I.

Bevor hier nach dem Glauben, Denken. Erkennen das „Erstaunen“ als „vierte Sache“ in „vierter Person“ hinterfagt wird, überlasse ich Berthold Brecht den „Lob der dritten Sache“: „Er und ich waren zwei, aber die dritte gemeinsame Sache, gemeinsam betrieben, war es, die uns einte. (…) Wieviel besser war doch unser Gespräch über die dritte Sache, die uns gemeinsam war, vieler Menschen gemeinsame gute Sache!“ (1) So lobt im Theaterstück „Die Mutter“ Pelagea Wlassowa die „dritte Sache“, und lobt damit weder die Liebe zwischen Mutter und Sohn, noch den Glauben an einen gemeinsamen Gott. Sie lobt den Glauben an die Revolution. „Der Sinn von Revolution ist die Verwirklichung eines der größten und grundlegendsten menschlichen Potenziale, nämlich die unvergleichliche Erfahrung, frei zu sein für einen Neuanfang, woraus der Stolz erwächst, die Welt für einen Novus Ordo Saeclorum (Neuordnung der Dinge) geöffnet zu haben.“(2) So begeistert ist Hannah Arendt von der Revolution und zeigt auf, dass die Revolution, bevor sie politisch wurde, ein astronomisches Fachwort war. Denn 1543 revolutionierte Nikolaus Kopernikus die astronomische Welt-Anschauung, indem er den Nachweis antrat, dass die Erde eine Kugel ist, die um die Sonne kreist und keine Scheibe mit der Sonne und den Sternen als Himmelsglocke. Das hatte unmittelbar, direkte Auswirkungen auf das irdische Denken, denn fortan begann man bei der Anschauung der Welt über das unmittelbar Augenscheinliche hinauszuschauen. Erst sehr viel später, mit der französischen Revolution (1789 – 1799), die mit einer Schreckensherrschaft scheiterte, wird die Revolution als politische Neuordnung der Dinge verstanden und von Berthold Brecht als „dritte Sache“ gelobt, wobei er schon die russische Revolution vor Augen hat, die auch erst nach einem vierjährigen Bürgerkrieg siegreich war. So gehört zur Geschichte der politischen Revolution, dass sie in den meisten Fällen gescheitert ist und sie dennoch ihre Faszination nicht verliert. Weil sie „die Freiheit, frei zu sein“ (3) lebendig hält. Die Frage ist also, wie kann sie siegreich und dabei weniger despotisch sein und bereits in ihrem Verlauf ihr Versprechen Herrschaftsfreiheit“ einlösen? Denn, dass wir eine radikale Neuordnung nicht nur der Dinge, des Geistes brauchen, ist heute, da die Existenz der Menschheit auf diesem Planeten in Frage gestellt ist, notwendiger als je zuvor. Wir können nicht weitermachen wie bisher, ohne den Preis der Selbstvernichtung dafür zu zahlen. So liegt die Wahrheit heute im Offensichtlichen und ist nicht mehr das Verborgene, nicht mehr das Zeugende-Ideale, das in Laboren erforscht, in Think Tanks erdacht und in ZKs beschlossen, als Sache eine Phantomherrschaft über den Menschen ausübt. Nur indem die Wahrheit zur Vernunft kommt und nicht länger als Herrschaftswissen oder heiliger Geist verstanden wird, irrt sie nicht mehr einem Grundwiderspruch hinterher, hat sie die Dynamik des „Gebenden-Gebärenden“ (Héléne Cixous) vor Augen und beachtet das „Akzidens“, das, wie Aritoteles in seiner „Metaphysik“ aufzeigt, das „nicht Wesentliche“ ist, das zur Hauptsache werden kann, wie der Wind beim Segeln oder als Hauptsache in einer Nebensache steckt, wie der Satz des Phytagoras im Dreieck. „Akzidens heißt das, das an etwas vorhanden ist und der Wahrheit gemäß von ihm ausgesagt werden kann, jedoch nicht mit Notwendigkeit und nicht in der Regel.“(4) „Das Akzidens ist entstanden und ist, doch nicht, insofern es selbst ist, sondern, insofern etwas von ihm Verschiedenes existiert.“(5)

II.

Das Nebensächliche, das für mich zur Hauptsache geworden ist, ist die Körpersprache, die zu Papier gebracht eine Körperschrift ist. Ihre wilde Semiotik (Lehre der Zeichen) „bringt die Grundpfeiler der etablierten Zeichenordnung zum Einsturz, indem sie auf die Materialität des Zeichens ausgerichtet ist und die Präsenz der durch die Zeichen auf Distanz gehaltenen Welt wiederherstellt,“ schreibt Aleida Assmann in ihrem Buch „Im Dickicht der Zeichen“ (6). Meine Betonung ist eine andere, denn ich möchte ja die festgelegten Zeichen zum tanzen bringen. So kehrt für mich die wilde Semiose den Weltverlust, der durch festgelegte Sinn und Raum entleerte, abstrakte Zeichen entsteht, wieder um. Denn als Körperschrift, die an die Körpersprache gebunden ist, gibt sie den Inhalt nicht nur absichtslos wieder. Sie führt uns ganz unmittelbar und direkt vor Augen, dass die Erscheinung – der Geist, an das Sein – den Körper gebunden ist. Ja, dass Sein und Erscheinung – das Ähnliche im Unähnlichen – eins ist. Das ist notwendig banal, notwendig ortsgebunden, notwendig momenthaft, notwendig divers. Und weil das so „einfach – genial“ (Sprichwort), so „indigenial“ (Andreas Weber) ist, ist die Faszination dauerhaft, ewig, hat sie sich bis heute in den ältesten Aufzeichnungen des Menschen, in den Felszeichen gehalten. Und dennoch ist der Mensch, weil er der Sehende ist, kein Höhlenmensch geblieben, hat er das Leben im Offenen und Weiten gesucht und gefunden, so dass es zur Entwicklung ortsunabhängiger, beweglicher Zeichen kam, die eine andere Anbindung, zunächst an das wahrgenommene Bild, dann an das abstrakte, systematische Denken bekamen und damit nicht mehr dem Ahnen und Begreifen der Erscheinung – dem „Eidos“ (Aristoteles) folgen, sich notwendig dem „Logos“ (ebenda), einer Absicht unterwerfen, die den „Willen zur Macht“ kreiert. Das war und ist der Gewinn einer der Möglichkeit nach vorhandenen Welt um den Preis der realen Welt, zunächst durch ein Sinn und Raum entleertes Denken, inzwischen ganz real durch eine rationale Ökonomie, die die irrationalen Kreislaüfe der Ökologie zerstört. Diesen Weltverlust durch Weltgewinn kehrt mein Bodytext um, der als Körpersprache an den Ducuts (mit c) gebunden, in der Medizin ein Gang, Kanal, Führung ist. So kommen die körperlich-seelischen Regungen zurück ins Bild und indem sie sich auf Papier oder Leinwand veräußern, werden sie zum Duktus (mit k), zur Linienführung einer Körperschrift, die ahnt und begreift. Diese, ihre Ahnungszeichen, bringe ich mit dem typografischen Akzidenz (mit z) in Verbindung, den ich als Kind kennengelernt habe. Die Typografie der Zeichen unterscheidet Buchstaben mit ausschmückenden Glyphen, die den Charakter eines Schriftzuges augenscheinlich machen und vor der Digitalisierung als Auszeichnungsschrift für Kopfzeilen und Überschriften verwendet wurden, von den Typen der Brotschrift, die keine oder nur sehr dezente Glyphen haben und den Fließtext bilden. Mein Vater, der Handsetzer gelernt und später als Maschinensetzer gearbeitet hat, hat mich als Kind immer darauf hingewiesen. Verstanden habe ich es nicht, war aber von dem „Schisslaweng“, wie er die Glyphe nannte, stets fasziniert. Erst viel später, als ich Kalligrafie verstand, verstand ich auch die Glyphe. Denn in der westlichen Kalligrafie, die den Schrifttyp handschriftlich realisiert und noch augenscheinlicher in der fernöstlichen Kalligrafie, die eine Bildschrift realisiert, wird aus der Glyphe ein Rhythmus, der die Schrift als Körperschrift zum Klingen bringt, so dass Schrift hörbar, Musik für die Augen ist. Denn die Geste ist im Gegensatz zur Glyphe kein feststehendes Zeichen, sie ist eine Bewegung, die vor dem äußeren und dem inneren Auge eine Spur hinterlässt, die sich im Gedächtnis einprägt, während das feststehende Zeichen eingeübt werden muss und vergessen ist, sobald die Wiederholung ausbleibt. So bewegt sich die Geste außerhalb der Ordnung, von der allein der Mensch annimmt, die Welt sei nach ihr geordnet. Denn nur er kann das „Davor-Danach“, den Weltraum der Evolution, getrennt vom Raum als Zeit begreifen, definieren, qualifizieren und in einen unendlichen Weltraum hineinprojizieren, so dass der Zeitstrahl als Weltordnung zurückkommt. So definiert das Eigeninteresse des Menschen, der „Skandal der Vernunft“ (Kant) die „Ordnung der Dinge“ (Foucault), mit Systemen, die er als göttliche Schöpfung ausgibt oder als menschliche Historie versteht. So ist die „dritte Sacheeine historische Auseinandersetzung um die „Ordnung der Dinge“, die die Revolutionen gegen das Kreuz und die Krone für Räte und Parlamente in Republiken erkämpft haben, die eine gesetzliche Ordnung gegen die Willkür der Selbstermächtigten behauptet. „Wie gut waren wir uns, dieser Guten Sache nahe“, sagt die Mutter Pelagea Wlassowa. Und doch kann, wie die Historie in zahlreichen Beispielen zeigt, diese „gute Sache“ despotisch entgleisen und dass nicht nur durch Konterrevolutionen, durch die „dritte Sache“ selbst, wenn sie keine „vierte Sache“ zur Seite hat, die die Verhaftung in der Rationalität auflöst und der Irrationalität Raum gibt…

III.

Die „Banalität des Bösen“ hat Hannah Arendt weltweit bekannt gemacht. „In meinem Bericht über (den Eichmann-Prozeß) sprach ich von der >Banalität des Bösen<. Dahinter stand keine These oder Theorie, doch irgendwie ahnte ich, daß diese Formulierung unserer literarischen, theologischen und philosophischen Denktradition über das Böse entgegenlief. Das Böse, so haben wir gelernt, ist etwas Dämonisches (….). Ich aber stand vor etwas völlig anderem und doch unbestreitbar Wirklichem. Ich war frappiert von der offenbaren Seichtheit des Täters, die keine Zurückführung des unbestreitbar Bösen seiner Handlungen auf irgendwelche tieferen Wurzeln oder Beweggründe ermöglichte. (…) Nichts an ihm deutete auf feste ideologische Überzeugungen oder besondere böse Beweggründe hin, das einzig Bemerkenswerte (…) war etwas rein Negatives: nicht Dummheit, sondern Gedankenlosigkeit.“ (7) In ihrem letzten Buch „Vom Leben des Geistes“, das allgemein als ihr Vermächtnis verstanden wird, versucht sie, mit meinen Worten, die Banalität des Guten zu zeigen. Für sie ist der Geist der Aufklärung bei der Erkenntnis der Wahrheit und damit bei der rationalen Vernunft stehen geblieben und das ist für sie nicht der Weisheit letzter Schluß, den es ohnehin nicht geben kann, weil das Leben Werden ist und dabei weder einem geheimen Plan, einem aufklärbaren System oder einer absoluten Idee folgt. So ist: „Die Vernunft (…) nicht auf der Suche nach Wahrheit, sondern nach Sinn. Und Wahrheit und Sinn sind nicht dasselbe.“ (8) Durch ein „Denken ohne Geländer“, das vom Ganzen aus denkt, auch wenn es dieses nicht kennt, das sich nicht als „Ich“, als „Intersubjektivität“ denkt und nicht durch ritualisierte Disziplin, wie es das Nicht-Geist-Nicht-Denken in der taoistischen und buddhistischen Tradition verlangt, will sie den Horizont der Aufklärung erweitern. So bleibt das vernunftbasierte Denken nicht bei der verengten Erkenntnis der Wahrheit stehen, sondern versteht sich als Denkraum, der, indem er ergebnislos denkt, den Weltverlust durch die an die Zeit gebundene Erkenntnis wieder umkehrt. So zeigt sie uns, auch wenn sie es selbst nicht so formuliert, die Banalität des Guten. Denn das Gute ist, dass alles immer, selbst als Teil, das Ganze, wenn auch nur sein Teil ist. So ist unser Verständnis des Guten, wie des Bösen, dämonisch besetzt. Theologisch dürfen wir uns dem Ganzen, dem Guten als Gott, sowenig nähern, wie dem Bösen als Teufel. Moralisch ist das rein Gute notwendig auch böse, weil es sich über seine Widersprüche erhebt und das Böse auch gut, weil es konsequent ist. Und philosophisch ist das Gute eine absolute Idee, die theoretisch das Böse besiegt und praktisch daran scheitert. So dass auch hier eine Erlösung des Guten von dessen Dämon, der Ikone, von Nöten ist. Das geschieht bei mir, indem die Körperschrift einen weiteren Kerngedanken von Arendt aufgreift: „Wir sind in der Welt und nicht nur von der Welt“ (9), wie es die Herleitung des Geistes aus dem Wort nahelegt: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort“ (10). Für Arendt ist das Wort hingegen – „Das Sein bestimmt das Bewusstsein“ (Marx) – die geistige Erscheinung des materiellen Seins. Das „Sein und Erscheinen ist dasselbe“ (11) und das Erscheinen ist nicht Gott. „Wenn das Göttliche das ist, was Erscheinungen verursacht und selbst nicht erscheint, dann könnten sich die inneren Organe des Menschen als seine wahren Götter herausstellen“. (12) „Mit anderen Worten, kein Seiendes, sofern es erscheint, existiert für sich allein; jedes Seiende soll von jemanden wahrgenommen werden. Nicht der Mensch bewohnt diesen Planeten, sondern Menschen. Die Mehrzahl ist das Gesetz der Erde.“ (13) Und diesem Denken als „Menschen“, dem Gesetz der „Intersubjektivität“, wird unser Denken nur dann gerecht, wenn der Verstand nicht nur die Erkenntnis der Wahrheit, sondern den „Sinn“ im Blick hat und mit ihm nach der Wahrnehmung, dem Empfinden und Erkennen einer „vierten Sache“, der „irrationalen Vernunft“ (Arendt benutzt beide Begriffe nicht) folgt. Denn was macht es für einen „Sinn“, wenn wir durch Ausbeutung aller, der materiellen, körperlichen und geistigen Rohstoffe, uns selbst und den Planeten ruinieren, was nach Erkenntnis der Wahrheit nicht nur möglich, uns sogar Luftschlösser auf dem Mars (Elon Musk) baut? Denn wer sagt uns denn, dass aktuell die nächste Evolutionsstufe, so wie einst der Mensch den Affen überwunden hat, heute nicht die Selbstüberwindung des biologischen Menschen ist? Die Antwort kennt allein die Vernunft nach der rationalen Vernunft, die von uns verlangt aus Sicht der Erkenntnis unvernünftig und irrational zu sein und ergebnisoffen zu bleiben. Nur so verlässt der Geist seine am Gewinn orientierte „vita activa“ und kehrt in sich, ergebnislos in „Leere“ („Wo sind wir, wenn wir denken?“ (14)), in das „Offene und Weite“ (ZEN), die „vita contemplativa“ (das „betrachtende Leben“) ein, das zu einer vernünftigen, am Ganzen orientierten „vita activa“ führt…

IV.

Aus der „vierten Sache“, von der meine Rede hier ist, wird in der Dankesrede von Olga Tokarzuk zur Literaturnobelpreisverleihung 2018, die Stimme „der zärtlichen Erzählerin“ und damit eine „vierte Person“. Eine Stimme, die, wie die Deutsche Welle berichtet, „nicht um Ich-Befindlichkeiten kreist, sondern die so etwas wie übergeordnet, quasi außenstehend sei. Eine Stimme wie in der Bibel, denn: „Wer sagt das: Am Anfang war das Wort?“ Tiefgründig und nüchtern analysiert die Nobelpreisträgerin die Funktion von Literatur. „Die Welt stirbt, und wir versagen, das zu erkennen.“ Gier, mangelnder Respekt vor der Natur, endlose Rivalitäten und Verantwortungslosigkeit hätten die Welt auf den Status eines Objekts reduziert, sie in Stücke geschnitten, verbraucht und zerstört. „Das ist es, weshalb ich glaube, dass ich Geschichten erzählen muss, als wäre die Welt ein Lebewesen.„“(15) „Das ist ein Standpunkt, eine Perspektive, von der aus alles gesehen werden kann. Alles zu sehen bedeutet, die ultimative Tatsache anzuerkennen, dass alle Dinge, die existieren, wechselseitig zu einem einzigen Ganzen verbunden sind, auch wenn uns die Zusammenhänge zwischen ihnen noch nicht bekannt sind. Alles zu sehen bedeutet auch, eine ganz andere Art von Verantwortung für die Welt anzunehmen, denn es wird offensichtlich, dass jede Geste hier mit einer Geste dort verbunden ist, dass eine in einem Teil der Welt getroffene Entscheidung sich in einem anderen Teil der Welt auswirkt, und dass die Unterscheidung zwischen meins und deins anfängt, strittig zu werden.“ (16) Tokarzuks „zärtliche Erzählerin“ ist von ihrer Herleitung aus der Bibel nicht zu trennen, doch was sie tatsächlich meint, wird aus einer anderen Herleitung, ebenfalls in der Rede, deutlich. In ihrem Wohnzimmer, so erinnert sie, gab es ein Foto von ihrer, mit ihr schwangeren Mutter, das in das Gehäuse des Radio eingesteckt war. „Wenn ich als kleines Mädchen dieses Foto betrachtete, war ich mir sicher, dass sie nach mir gesucht hatte, als sie am Sendeknopf drehte. Wie ein empfindsamer Radar drang sie in das unendliche Königreich des Kosmos ein und versuchte herauszufinden, wann ich ankommen würde und woher.“ Als sie ihre Mutter mal fragte, warum sie auf dem Foto so traurig ist, soll sie gesagt haben, dass sie ihre Tochter schon vermisst habe, bevor sie auf die Welt kam. „Und so kam es, dass eine junge Frau, die niemals religiös war – meine Mutter – mir so etwas wie eine Seele gab und mich damit zugleich mit dem weltgrößten zärtlichen Erzähler versah“…

V.

Keine „zärtliche Erzählerin“, dafür aber eine zärtliche Erzählinstanz, also keine grammatisch (bislang noch) unmögliche Perspektive als „vierte Person“, dafür aber eine „vierte Sache“ als altruistische Instanz, die als „Nicht-Ich“ und „Nicht-Wir“ aus dem „Nicht-Denken“, ganz unmittelbar und direkt aus dem „Überall“ und „Nirgends“ spricht, das Hannah Arendt „Leere“ oder „vita contemplativa“ nennt, kennt auch das japanische Haiku. Doch hier spricht man, wie gesagt nicht von einer „vierten Person“, von einem Spiegel, der desinteressiert als „reiner Geist“ das Geschehen spiegelt. Für das Erzählen ist das identisch, ein Erzählen, wie es auch Tokarzuk sich denkt, doch sie fordert von der „vierten Sache“ mehr, das Handeln und Eingreifen in die Welt als „vierte Person“. Sie sehnt die Erlösung, wie einst ihre Mutter sie, als „vierte Person“ herbei. Während die fernöstliche Philosophie einen anderen Ausweg wählt, sie will die Welt nicht verändern, weil das nur eine weitere Verstrickung ist, sie will die Welt verlassen, das Leiden beenden, indem man es nicht wiederholt. Dieses Nicht-Tun bedeutet aber nicht, dass sich durch das praktizieren von Tao oder ZEN nichts tut. „Li oder Wirklichkeit ist das, worauf das Sehen reagiert und was dem Geist begegnet. Wenn Künstler diese Wirklichkeit in ein Gemälde übertragen und ihre Geheimnisse erfassen, dann reagiert der Blick Anderer darauf und der Geist Anderer begegnet sich darin. (…) Wo dieses spirituelle: Geist in Aktion hervorgerufen wird, begegnet man der wirklichen Wirklichkeit.“ (17) Wenn man „Tao“ mit Weg, das „Chi“ mit Energie übersetzt, lässt sich das „Li“ als irrationale Vernunft verstehen. Und was unter der „wirklichen Wirklichkeit“ zu verstehen ist, ist in der alt-chinesischen ZEN-Geschichte „Der Ochse und sein Hirte“ anschaulich beschrieben: „Ein Spiegel spiegelt sich in allen Spiegeln, alle Spiegel spiegeln sich gesammelt in einem Spiegel. Dieses Spiegeln ist die Wirklichkeit der wirklichen Welt“.(18)

Obwohl kein Buddha – steht doch so selbstvergessen – die alte Kiefer“ (19)

Selbst wenn ich spräche – die kalten Lippen wären – nur der Wind des Herbstes“ (20)

Armer Wurm im Raps – nie wirst du ein Schmetterling – und vergehst im Herbst“ (21)

Das erste Haiku ist von Issa, die beiden anderen von Basho. Das Haiku folgt einem strengen Silbenmaß: In der ersten Zeile 5, der zweiten 7 und der dritten wieder 5 Silben. – Nicht bezogen auf den spielerischen Umgang in der Literatur oder Kunst, bezogen auf das gesellschaftliche Leben, sieht Hannah Arendt das Nicht-Denken, das nicht durch das denkende Selbst, durch ritualisierte Disziplinen erreicht wird, kritisch: „Das Nicht-Denken, das hinsichtlich politischer und moralischer Angelegenheiten ein so empfehlenswerter Zustand zu sein scheint, besitzt ebenfalls seine Gefahren. Indem es die Leute gegen die Gefahren der kritischen Überprüfung abschirmt, lehrt es sie, an dem festzuhalten, was immer die vorgeschriebenen Verhaltensregeln zu einer bestimmten Zeit in einer bestimmten Gesellschaft sein mögen. Woran die Menschen sich dann gewöhnen, ist nicht so sehr der Inhalt der Regeln, deren genaue Überprüfung sie immer in Verwirrung bringen würde, als der Besitz von Regeln, unter denen das Besondere sublimiert werden kann. Mit anderen Worten, sie gewöhnen sich daran, niemals zu einer selbstgewonnenen Überzeugung zu kommen.“ (22) Zur Verteidigung des Nicht-Denkens muss gesagt werden, dass es aus Kulturkreisen mit Bildschriften kommt, in denen die Realität konkret in Vorbildern begriffen wird, die ihr geistiges Sehen nicht durch den Fortschritt in ein spekulatives Denken durch Begriffe eingetauscht haben. So befürchtet man hier den durch Spekulationen aufgewühlten Geist, während umgekehrt das spekulative Denken die Ruhe fürchtet, weil sich der Begriff im geistigen Begreifen verliert…

VI.

Mein Bodytext, wir erinnern uns, den ich aus dem „Schisslaweng“ entwickelt habe, entspringt einem Perspektivwechsel, den in ähnlicher Form auch Hannah Ahrendt in ihrem geistigen Leben vollzogen hat. Sie hat Philosophie u.a. bei Martin Heidegger studiert, der auch zeitweilig ihr Geliebter war und hat mit der Trennung von ihm, nicht nur ihn, auch sein Denken verlassen. Heidegger denkt, wie die großen metaphysischen Denker, Buddha, Platon, Aristoteles, Hegel, Kant, Nietzsche…, vom Tode aus. Sie wählen den Tod als ihr „Wo bin ich, wenn ich denke?“, nicht weil ihr Gott tot ist, das ist ein Phänomen der Neuzeit, Nietzsches Position; sie wählen einen Punkt, an dem die sinnliche Welt mit ihren Wahrnehmungen den Geist nicht mehr stört, so dass absolute Feststellungen wie, „Das Leben ist Leid“ (Buddha), getroffen werden können, die einen „Weg zur Befreiung vom Leid“ weisen, der in den „reinen Geist“ – das „Nirvana“ – führt, das in der Welt ist ohne von der Welt zu sein. In diesen absoluten Aussagen, die Arendt „Zwei-Welten-Theorie“ nennt, sieht sie das Totalitäre, in das das große Denken abzudrifften droht. Und führt als Ursache dafür etwas ganz Erstaunliches an, dass diesen Denkern „das Vermögen, vor dem Einfachen zu erstaunen, (und) dieses Erstaunen als Wohnsitz anzunehmen“ fehlt. (23) So wechselte sie nicht nur ihren philosophischen Wohnsitz und beginnt neu, nicht mehr vom Absoluten und Toten, vom Relativen und Lebendigem aus zu denken: „Das Wunder, das den Lauf der Welt und den Gang menschlicher Dinge immer wieder unterbricht und vor dem Verderben rettet, ist schließlich die Tatsache der Natalität, das Geborensein, welches die ontologische Voraussetzung dafür ist, daß es so etwas wie Handeln überhaupt geben kann“.(24) Verglichen damit war meine Rochade eher ein Zickzack. Als Lehrling ohne Abitur, mit der Werkbank als Studium, war mein philosophischer Meister Marx, der mir als Arbeiter meinen Weltverlust in entfremdeter Arbeit vor Augen führte. Das war für mich so etwas, wie ein „Geborensein“, eine Revolution im Denken, die als Revolution der Macht das Gegenteil dessen wurde, was Marx ursprünglich gedacht hatte. So starb in mir und ich mit ihm, der dogmatische Marxismus einen geistigen Tod und ich dachte, ob ich es wollte oder nicht, vom Tode aus. So fand ich geistigen Halt im metaphysischen Denken, folgte real aber meinen Händen, die klüger waren als mein Verstand und als „Anfängergeist“, wie man im ZEN sagt, meinen Kindheitstraum verwirklichten und mich mit meinem Bodytext zum Künstler machten. Denn der war sofort da, als die dogmatische Einhegung meines Geistes von mir abfiel und ich von der Selbstpräsentation als Parteifunktionär zur Selbstdarstellung als Künstler wechselte. Nur mein Verstand, der mich doch laut Kant aus der „selbstverschuldeten Unmündigkeit“ befreien sollte, verweilte noch im gestern. Er war noch in der rationalen Erkenntnis verhaftet, suchte nach der absoluten Wahrheit und folgte noch nicht wie die Hände dem Sinn und der irrationalen Vernunft

VII.

Schrift und Bild, das heißt Schreiben und Bilden, sind wurzelhaft eins“, (25) notiert Klee in seinem Skizzenbuch. Denn beide, das Schreiben und das Bilden folgen der Erscheinung des Seins, mit unterschiedlichem Blick. Das Bilden hat den Raum und damit das Ganze im Blick, während das Schreiben die Zeit und damit das Detail im Blick hat. Das liegt in der Natur der Sache, denn das Schreiben zwingt die Erscheinung in die Zeile, bekommt sie so mit dem  Begriff in Griff, während das Bilden die Erscheinung im Raum und damit im Unbegreifbaren belässt. So macht ein Bild das Unsichtbare des Geistes sichtbar sichtbar, während in der Schrift das Unsichtbare des Geistes unsichtbar sichtbar ist. So führen beide auf unterschiedlichem Wege das Leben des unsichtbaren Geistes vor Augen, das im Bild und in der Schrift pulsiert, ohne dass das Bild oder die Schrift dessen Puls ist. Der unfassbare Maßstab (aphanes metron), den der Verstand nicht begreifen kann und dennoch als Grenze aller Dinge akzeptiert – weshalb die Frage ob es einen oder keinen Gott gibt, nicht zu beantworten ist -, zeigt sich in ihnen, durch sie, ohne dass sie der Maßstab sind. Wozu also Malen, wenn das sinnliche Auge nicht sehen kann, was das geistige Auge sieht? Wozu also Schreiben, wenn das Maß aller Dinge im Geschriebenen nicht erscheint? Wozu also Denken, wenn das Denken keine Resultate kennt? Ja, wozu also Leben, wenn es keinen Gewinn bringt? Wozu das Ganze, wenn das letzte Hemd keine Taschen hat? „Zum Leben, das resultatlos ist, gehört die Anstrengung der verzehrenden Arbeit, ohne die es nicht am Leben bleibt; und zu ihm gehört die Anstrengung des Denkens, ohne das es nicht lebendig ist. Arbeit und Denken bleiben resultatlos wie das Leben selbst, sie sind die menschliche Modi des Lebendigseins.“(26) Und damit die große Freude, Offenheit und Weite, die uns im Leben trägt, obwohl wir alle wissen, dass diese Reise vorübergeht. So ist in einem Leben, das für den Lebenden aus dem Nichts kommt und mit dem Tod im Nichts endet, das Leben selbst, dessen Lebendigkeit das größte Glück. So kann der Sinn des Lebens und damit dessen Fortschritt nicht das „fort wohin“ sein, weder in ein Neues Leben, die Neue Welt, den Neuen Menschen, den Reinen Geist hinein, muss er zwischen Geburt und Tod eine „neue Ordnung“ sein, die das „fort“ verhindert, indem das Gute sich selbst, als irrationale Vernunft entfaltet, die die Ähnlichkeit im Unähnlichem zeigt. Das „Gebende-Gebärende“, das Kreatürliche, das Mann und Frau, Körper und Geist, Mensch und Welt wieder eint und nach dem Zeugenden-Idealen, der Herrschaft des Patriarchats, den Weltverlust umkehrt und den Menschen vor der Selbstzerstörung bewahrt…

Zitatnachweise:
(1) Aus dem Lied „Lob der dritten Sache“, aus Bertolt Brecht, „Die Mutter“, Ein Stück, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg, September 1967, Seite 69
(2) Hannah Arendt „Die Freiheit, frei zu sein“, dtv, München 2018, S.38
(3) Hannah Arendt, ebenda, der Titel des Essays
(4) Aristoteles „Metaphysik“, Reclam, Stuttgart 1970, V.Buch (A), 30. Das Akzidens, S.154
(5) ebenda, S.153
(6) Aleida Assmann, „Im Dickicht der Zeichen“, Suhrkamp, Frankfurt a.M. 2015, „Wilde Semiose“, S.22
(7) Hannah Arendt, „Vom Leben des Geistes. Das Denken. Das Wollen“, Piper Verlag München 1998, S. 13/14
(8) ebenda, S.25
(9) ebenda, „1. Die Welt als Erscheinung“, S.32
(10) Die Bibel, Neues Testament,Johannes 1.1.
(11) Hannah Arendt, „Vom Leben des Geistes. Das Denken. Das Wollen“, Piper Verlag München 1998, „1. Die Welt als Erscheinung“, S.29
(12) ebenda, „6.Das denkende Ich und das Selbst: Kant“, S.51
(13) ebenda, „1. Die Welt als Erscheinung“, S.29
(14) ebenda, 19. „Tantót je pense et tantót je suis“ (Valéry): das Nirgendwo, S.193-198
(15) DW (Deutsche Welle), 8.12.2019. Themenseite: Nobelpreisrede Tokarczuk/Handke, Autorin: Sabine Peschel
(16) „The Tender Narrator“, Nobelpreisrede 2018, zitiert aus Eva von Redecker „Revolution für das Leben“, S.123, online abrufbar unter: https://www.nobelprize.org/prizes/literature/2018/tokarczuk/104871-lecture-english/.  (17) Aus dem Essay von Tsung Ping „Über das Malen von Landschaften“, zitiert aus „Tao, Zen und schöpferische Kraft“, von Chang Chung-yuan, Eugen Diederichs Verlag, München 1980, S.182
(18) „Der Ochse und sein Hirte“, Eine altchinesische Zen-Geschichte erläutert von Meister Daizohkutsu R. Ohsu Klett-Cotta, Stuttgart, 12. Auflage 2018
(19) Byung-Chul Han „Philosophie des Zen-Buddhismus“, Reclam, Stuttgart 2002, S.73
(20) ebenda, S.84
(21) ebenda, S.104
(22) Hannah Arendt, „Zwischen Vergangenheit und Zukunft – Übungen im politischen DenkenI““, Piper, München, 1994, S.146
(23) Hannah Arendt, „Vita activa oder Vom tätigen Leben“, Piper, München, 1981
(24) ebenda
(25) Paul Klee, Monographie von Denys Chevalier, Gondrom Verlag, Bindlach 1992, S.11
(26) Hannah Arendt, „Vita activa oder Vom tätigen Leben“, Piper, München, 1981

Weiterführende Literatur:
Eva von Redecker, „Revolution für das Leben – Philosophie der neuen Protestformen“, Fischer/Frankfurt/M, 2020 Harald Welzer „Nachruf auf mich selbst: Die Kultur des Aufhörens“, S.Fischer-Verlage, Frankfurt/M, 2021

 

„Den Quelltext neu denken“ – Im Tanz der wilden Zeichen bestehen