DEN QUELLTEXT NEU DENKEN


IM TANZ DER WILDEN ZEICHEN BESTEHEN

Essay von Jürgen Tobegen


 

„Die wilde Semiose“, der wilde Zeichenprozess, schreibt die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann, „bringt die Grundpfeiler der etablierten Zeichenordnung zum Einsturz, indem sie auf die Materialität des Zeichens ausgerichtet ist und die Präsenz der durch die Zeichen auf Distanz gehaltenen Welt wiederherstellt. In jedem Fall erzeugt sie Störungen und Unordnung im besonderen Beziehungssystem der Konventionen und Assoziationen. Sie stellt neue, unmittelbare Bedeutung her, sie unterläuft, verzerrt, vervielfältigt, sprengt die vorgegebenen Raster der Sinnbildung.“ (1)

Dieser Einschätzung kann ich nur zustimmen und begründen, dass mein „wilder Zeichenprozess“ nicht weniger will als dem „nous“, dem „Betrachten ohne Diskurs“, nach der „Einhegung“ des Bildes durch den „logos“ der Worte  und die „Logik“ der „festgelegten Zeichen“, wieder eine neue (alte), „unmittelbare Bedeutung“ zu verleihen. Er entstand, als ich versuchte „richtig zu malen“, was den Regeln der Konvention entsprechend heißt: Mit „Logik“, durch die Präzision festgelegter Gesten und Zeichen die Welt auf Distanz zu halten. Exakt so, wie ich als Kind in der Schule Schrift gelernt habe. Da ist mir der Kragen geplatzt, weil das, was durch meine Zuneigung auf Papier sollte seinen Sinn verlieren musste, damit es in festgefügte Zeichen passt. Mit spontanen Strichen übermalte ich meine Kopien und bekam großen Applaus: „Die Striche sagen etwas…“ Nur, was?

Absichtslos begab ich mich auf die Spur meiner spontanen Striche, nicht weil ich das „WuWei“, das „Tun ohne Tun“ bereits kannte, das das Tao seit zweitausendfünfhundert Jahren in der chinesischen Kalligrafie und Landschaftsmalerei lehrt, ich wollte meinen Strichen auf die Spur kommen und wusste nicht wie ein Bild nur aus ihnen aussehen kann. Dabei entdeckte ich, dass ich nicht nur eine Handschrift habe, die äußerst launisch ist und durch Selbstdisziplin in eine „Schönschrift“ verwandelt werden kann. Dieses westliche Verständnis von „Kalligrafie“ hatte mich mein Vater bereits als Kind gelehrt, indem ich Zeuge war wie er aus Büchern alte Handschriften kopierte, sie einrahmte und an die Wand hängte. Doch der gleiche Vater, der fasziniert war von Schrifttypen, Schriftsetzer von Beruf war und diszipliniert alte Handschriften kopierte, konnte auch anders. Als er mein Zeugnis unterschrieb, hat er den Strich über dem T so wild gesetzt, dass er die nächsten Jahrgänge gleich mit unterschrieb. Dieser wilde Zeichenprozess zeigte mir, dass sich hinter der „Schönschrift“ eine „Körperschrift“ verbirgt. Doch meinen eigenen wilden Zeichenprozess verklausulierte ich noch 2020 als „Figura Originis“ und konnte ihn nicht „Körperschrift“ nennen. Noch nicht, denn: „Körperschriften entstehen durch lange Gewöhnung, durch unbewusste Einlagerung und unter dem Druck von Gewalt. Sie haben die Stabilität und Unverfügbarkeit gemein. (…) Was dort im Innersten aufgeschrieben ist gilt als nicht löschbar, weil es unveräußerlich ist,“ (2)


„Beine und Arme sind voll von schlummernden Erinnerungen“

(Marcel Proust) (3)


Der „Druck der Gewalt“, der Wut und Scham, als Kind Ohnmacht und Sprachlosigkeit in mir auslöste, mich als Erwachsener in Umwege zwang, die ein verkompliziertes Denken und Schreiben in mir beförderten, war der Stempel, den ich als Kind verpasst bekam und der hieß: „Legastheniker“.  Weil ich anders spürte und dachte als meine Umwelt und diesen Konflikt nicht adäquat zur Sprache, geschweige in eine Schrift bringen konnte, war ich, obwohl mich niemand ausgrenzen wollte, der Ausgegrenzte. So dachte ich: „Alles ist umgekehrt“ und schrieb auch so. „Wie macht man dem Menschen-Tiere ein Gedächtnis? Wie prägt man diesem teils stumpfen, teils faseligen Augenblicks-Verstande, dieser leibhaftigen Vergeßlichkeit etwas so ein, daß es gegenwärtig bleibt? Man brennt etwas ein, damit es im Gedächtnis bleibt, nur was nicht aufhört, weh zu tun, bleibt im Gedächtnis“ (4).

Mein Vater war ein großer Nietzsche Verehrer und so hat er auch diese Sätze gekannt, aber ein „schwarzer Pädagoge“ war er nicht, so wenig wie Nietzsche. Er war ein hochsensibler und tiefgründiger Mensch, der von seinem Vater, durch die Nazis und den Krieg, ein Gedächtnis eingeprägt bekommen hat und das nun mit seinem Sohn tat. Dafür konnte ich ihm in der Mitte meines Lebens sogar dankbar sein, doch den „Druck der Gewalt“ nahm das nicht. „Verglichen mit dieser somatischen Wahrheit produziert der Verstand nur eine logische Wahrheit, „eine mögliche Wahrheit“, ihre Wahl steht noch in unserem Belieben. (…) Nur der Eindruck, wie hauchdünn auch seine Substanz zu sein scheint, wie ungreifbar seine Spuren, ist ein Kriterium der Wahrheit.“ (5).

Als Kind versuchte ich mein „Kriterium der Wahrheit“ zur Sprache zu bringen, indem ich meine eigenen Wörter und Zeichen erfand, mit ihnen aber nicht bestehen konnte. So habe ich mich in die innere Migration, die Welt der Träume und Alpträume zurückgezogen, bis ich, „Pop, Underground, Nein: Gegenkultur“, so hieß mein Lieblingsbuch, mich der antiautoritären Revolte anschloss, von „Sex, Drugs and Rock and Roll“ fasziniert war, in der Subkultur aber nicht bestehen konnte. So suchte ich weiter und fand schließlich „meine“ festgelegten Zeichen, Normen, Dogmen im Kommunismus…


„…diese versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwingen, dass man ihnen ihre eigene Melodie vorsingt“

(Karl Marx) (6)


„Es war, als zerrisse ein Schleier vor meinen Augen. Zum ersten Mal empfand ich klar die Logik der Weltgeschichte und konnte ich die dem Anscheine nach so widerspruchsvollen Erscheinungen der Entwicklung der Gesellschaft und der Ideen auf ihre materiellen Ursachen zurückführen.“ (7). So wie es der Schwiegersohn von Karl Marx hier sagt, erging es auch mir, als ich zum ersten Mal mit dessen Gedanken in Berührung kam. Es war auf einem Zeltlager der Naturfreundejugend in Otterndorf bei Cuxhaven, da traf ich auf Studenten aus Kiel, die als „Rote Zellen“, auf ihrem „Marsch durch die Institutionen“, den Rudi Dutschke für die APO ausgerufen hatte, hier Marxismus unterrichteten. Ich lernte die „Ökonomisch-philosophischen Manuskripte“ von Marx und das „Kommunistische Manifest“ kennen. Es waren Schlüsselbegriffe wie „Entfremdung“ und  der Widerspruch zwischen „Sein und Sollen“, die in mir Klick machten, mich aus meiner individuellen Not befreiten, indem sie mein persönliches Schicksal in einen größeren, ja weltumspannenden „Klassenzusammenhang“ stellten. „Wer seine Lage erkannt hat, wie soll der aufzuhalten sein“, sagt Pelagea Wlassowa im „Lob der Dialektik“, dem Schlusswort in Brechts Theaterstück „Die Mutter“ (8).

Von jetzt auf gleich wurden die Widersprüche der Welt die mich gefangen hielten, nicht nur erklärt, sie bekamen eine Dynamik, durch die ich sie verändern konnte. Der einzelne Mensch hörte auf ein „Sündenfall“ zu sein, zu dem nicht nur die abrahamitischen Religionen ihn machen, indem sie die „Erkenntnis“ als Widersacher zur Schöpfung tadeln, auch der religiöse Buddhismus spricht den Wiedergeborenen schuldig, weil sein „Karma“ ihn erneut ins Karussel des Leidens geschickt hat. Als „Atheist“ und „Legastheniker“ war, bin und bleibe ich für alle Weltreligionen ein hoffnungsloser Fall. So zeigte mir Marx, dass sich mein ganz persönliches Schicksal wendet, indem ich mich zur „Klasse“ formiere. „Die Proletarier können sich die gesellschaftlichen Produktivkräfte nur erobern, indem sie ihre eigene bisherige Aneignungsweise und damit die ganze bisherige Aneignungsweise abschaffen.“ (9) „An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“ (10). Das waren Ziele durch die mein leidendes Ich in einer Symbiose verschwandt, für die ich mein Leben opfern wollte, als ich mit 18 Jahren in die KPD/ML aufgenommen wurde und gelobte dem Kommunismus bis ans Lebensende treu zu bleiben.

Erst 16 Jahre später verstand ich, dass der „real existierende Sozialismus“ an der Symbiose scheiterte, die mich so stolz gemacht hat. Spontan hat die Arbeiterklasse in keinem Land der Welt das „revolutionäre Klassenbewusstsein“ herausgebildet das Marx und Engels ihr unterstellten. Marx hat, um als Philosoph neben der „absoluten Philosophie“ von Hegel, als Schüler neben einem Großmeister zu bestehen, verlangt: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt darauf an, sie zu verändern“ (11). So wurde nicht durch Marx der „Materialismus“ absolut gegen den „Idealismus“ von Hegel gesetzt, das taten bereits andere Mitschüler, Marx setzte den „Klassenkampf“ und nach der Pariser Kommune die „Diktatur des Proletariats“ absolut, um die „materiellen Ursachen“ und nicht nur die „Ideen“ zu verändern. So wurde das Proletariat als „Subjekt aller Veränderungen“ (12) aus „ökonomisch-philosophischen Erkenntnissen“ abgeleitet, mit Erfahrungen aus den Klassenkämpfen angereichert, analog zur Bourgeoisie, zur Französischen Revolution gesetzt, in der sich das Bürgertum tatsächlich zur Klasse formierte und Kirche und Adel entmachtete. Doch die Arbeiter stellten sich, wenn überhaupt, an die Seite der nationalen Bourgeoisie, rebellierten gegen ihre Ausbeutung, ohne je den politischen Willen zur Macht zu entwickeln, den die Kommunisten ihnen unterstellten. So wurde aus der „Diktatur des Proletariats“ eine Diktatur über das Volk und es reichte in der DDR schließlich als Widersacher ein einfacher Satz: „Wir sind das Volk“ und die sozialistische Diktatur stürzte ein…

Zwei Jahre zuvor, bereits 1987 in einer Politbüro-Sitzung über den 7o.Jahrestag der Oktoberrevolution, brach diese Welt für mich und ich mit ihr zusammen. Ich erinnerte mich wieder, dass ich immer Maler, Künstler werden wollte, begann zu malen und entdeckte die in mir verborgene „Körperschrift“. Als ich mit ihr auch an der Hochschule der Künste in Berlin nicht landen konnte, vom damaligen Professor und Maler Norbert Tadeusz heraus geschmissen wurde, da beschloss ich es autodidaktisch zu versuchen. „Wo Brandmarkung war, soll Sprache entstehen!“ (13).


„Haltung: …gegen das Lautsein“

(Mely Kiyak) (14)


Inzwischen war ich schon in der Welt der Kalligrafie angekommen und fragte mich: „Wie kommt es dazu, dass mir arabische, chinesische, japanische Kalligrafien etwas sagen, obwohl ich keine dieser Sprachen, geschweige ihre Schrift kenne?“ Erst als ich meine eigene „wilde Semiotik“ als eingeborene Genialität, als „Indigenialität“ (15) verstand, verstand ich: „Wir sind alle Wilde“ (16) und  konnte aus dieser Perspektive die nah- und fernöstliche Kalligrafie geistig erfassen. Denn sie ist nicht nur, wie im westlichen Kontext „Schönschrift“, sie ist eine spontane „Körperschrift“, die Menschen wie mir, die die festgelegten Zeichen nicht kennen, diese sinnhaft vermittelt. So verstand ich, dass abstrakte Maler sich in der Kalligrafie und umgekehrt Kalligrafen sich in abstrakter Malerei wiederfinden, denn der Rhythmus und die Melodie der „wilden Semiotik“ ist universell. Es ist der „Logos“ der Natur, die „freie Rede“, die durch Wind und Wetter, Flüsse, Meere, Bäume, Blumen, Tiere, Menschen, aus Gestik, Mimik und Klängen zu uns spricht…

Aus diesem Geschenk der Natur, vermutlich aus Ablagerungen und Spuren, die der Zeichenprozess der Natur hinterlässt, ist Schrift entstanden, die weltweit zunächst eine Bildschrift war und sich über Jahrtausende zu der abstrakten Schrift rationalisiert hat, die wir heute verwenden. „Die Menschen bezahlen die Vermehrung ihrer Macht mit der Entfremdung von dem, worüber sie Macht ausüben. Die Aufklärung verhält sich zu den Dingen wie der Diktator zu den Menschen. Er kennt sie, insofern er sie manipulieren kann“ (17). Denn das „Ding“, das wir mit „festgelegten Zeichen“ manipulieren ist die „Selbstentfaltung der Existenz“, die in der antiken chinesischen Philosophie als „Tao“ (Weg), „Chi“ (Energie) und „Li“ (Vernunft) verstanden wird und in der antiken griechischen Philosophie als „nous“ (Vernunft) und „logos“ (Verstand), so dass in Griechenland in „freier Rede“, in China durch „absichtsloses Tun“ der Einklang mit dem „aphanes metron“, dem unfassbaren Maßstab der Existenz gesucht wurde. Aus Sicht des kognitiv-rationalen Wissens ist das genetisch-irrationale Wissen ein „Nichtwissen“, weil es „ternär“ – wahr, unwahr, unfassbar – ist. Es fließt, steht nie still, kommt zu keiner Festlegung, ist ein Werden ohne Mehrwert, ohne Ziel. Anders das kognitive Denken, oder der „Wagenhebereffekt“ (18), der den Menschen von allen anderen Lebewesen unterscheidet. Denn der Mensch wird im Gegensatz zu allen anderen Hirnen, mit einem unausgeprägten Gehirn geboren. So dass unser Gehirn „koevolutionär“ ist, aus einem von der Natur ausgeprägten Teil, der Intuition, und aus einem von der Kultur geformten Teil, der Kognition, besteht. Dadurch hebt sich die menschliche Generationsfolge schneller höher, sinkt sie im Gegenzug aber auch schneller tiefer, wenn sie, wie es jetzt zu sein scheint, die Grenzen des Wachstums überschätzt…


„Die Poesie zwingt sich nicht auf, sie setzt sich aus“

(Paul Celan) (19)


Der „Wagenhebereffekt“ ist ein faszinierendes, aber auch verräterisches Bild: Hier hebt ein Mann das Selbst als Auto… Frauen würden wohl eher von einem „Bindungseffekt“ sprechen… Historisch hat sich die Dichotomie in etwa so herausgebildet: Zunächst prägte das eingeborene „Nichtwissen“ als „Indigenialität“ oder „Mutter Erde“ intuitiv die Tat. Tatsächlich war und ist darin der Mann der Frau unterlegen, denn er kann lediglich leiblich zeugen und kein neues Leben gebären, er hat keine leibliche Bindung zum Neuen. So schritt der Mann zur Tat, zur Machtergreifung des Patriarchats, das den „Vater Himmel“ als neue „Weltordnung“ imaginierte. Das Pantheon der Götter war tatsächlich ein „geistiger Fortschritt“ der es ermöglichte das indigeniale Nichtwissen auf einer Meta-Ebene, als ein „ternäres Schauspiel“ – wahr, unwahr, unfassbar – zu spiegeln. Schauen wir auf das griechische oder indische Pantheon, so ist die Götterwelt halb Mensch und halb Wesen. Die Götter werden geboren, können sterben, leben auf jeden Fall erheblich länger als Menschen. Daraus erklärt sich das Streben nach „Unsterblichkeit“ im griechischen Denken und das Bestreben aus dem „Rad der Wiedergeburten“ auszusteigen im Hinduismus und Buddhismus. Der Mensch will über die von ihm erschaffenen Götter hinaus und als reiner Geist ewig sein. Mit diesem Wunsch ist zunächst im Judentum, danach im Christentum Schluß, indem der eine Gott erscheint, der das Pantheon von jetzt auf gleich abschafft, indem er als Schöpfer des Universums nie geboren, unsterblich ist. Und, das ist die „frohe Botschaft“ dieser Religionen, der Mensch ist es auch, indem er an den einen Gott glaubt. Im Judentum und später im Islam, ist „der Eine“ ein unsichtbarer Gott, der erhört wird, dem der Mensch durch Gehorsam folgt. Erst im Christentum durch Jesus, den Gottessohn, ist „der Eine“ in der Welt, die Erscheinung im Sein. Doch dieser Gott verliert, nachdem er in Missionskriegen gewaltsam durchgesetzt werden musste, schließlich seine Autorität, indem der durch ihn in einer erleuchteten Welt lebende Mensch, die weltlichen Zusammenhänge selbst erkennt und sich von einem Gott im Himmel abwendet. So nimmt die Aufklärung an Pfad auf, die den unfassbaren Maßstab (aphanes metron) wieder als etwas Unsichtbares, als Naturgesetz annimmt, das nicht nur der Natur, dem menschlichen Leben zu Grunde liegt. Und diesem Gesetz folgt der Mensch nicht durch Gehorsam, durch Überzeugung, indem er es sich selbst plausibel und sichtbar macht. Dieses „Ich denke, also bin ich“ führte zur Neuordnung der Welt durch die amerikanische, französische und schließlich russische Revolution…

Den Teufel hat die Säkularisierung dabei nicht vergessen, wie Ernst Bloch es vermutet. (20) Der männliche Wagenheber „Zivilisation“ hat aus dem „evolutionären Fortschritt“, dem gebärenden „Logos“, eine erzeugte „technische Innovation“, die binäre „Logik“ gemacht. Deren „technischer Fortschritt“ besteht darin das „Widersacherische“ (21) der Natur – „was geboren ward, muss sterben“ (22) – zu externalisieren. Im Denkraum der „Logik“ ist das Undenkbare nicht existent, weder gibt es das Vor-der-Geburt, das Nach-dem-Tod, noch das Gegenteil dessen was gedacht wird. Die „Logik“ sterilisiert sich durch „festgelegte Zeichen“ von selbst gegen den Virus Leben, hält sich mit technischen „Applikationen“ und „smarten Lösung“ die Welt auf Distanz. Denn die Aufklärung folgt nicht der „Maieutik“ (23), nicht der Hebammenkunst, die der Intuition ein Leben mit Verstand ermöglicht, sie folgt der „mechané“ (24), die die Intuition durch den Verstand ersetzt und altgriechisch auch „Betrug an der Natur“ genannt wurde. Und das geschah so: Jedes Lebewesen, ob Mensch oder Tier entwickelt Technik, wird zum Techniker seines Lebens. Als der Mensch dafür Werkzeuge fand, begann der Mann damit die leibliche Technik, mit der die Frau ihm überlegen war, zu externalisieren. Daraus wurde zunächst die „mechané“, in Folge die Maschine, in Folge die Industrie, das Selbstfahrzeug Auto, der Computer, schließlich die „unsichtbare Maschine“ das Internet. Die Maschine wurde und wird dabei als „Gott“ angebetet oder als „Teufel“ verdammt, wurde zum „Denker ohne Denken“, der vom Menschen programmiert, mit seinen Programmen den Menschen programmiert. „Die Maschine ist kein technisches Gadget mehr, sondern längst zur geistigen Größe geworden. Sie ist das unbewusste der Philosophie, der Gesellschaft überhaupt. Würde der Geist der Maschine freigesetzt, wäre endlich eine nun von allem metaphysischen Ballast befreite, radikal geistesgegenwärtige Philosophie denkbar“ (25).


„Ich suche nicht. Ich finde.“

(Pablo Picasso) (26)


So ist das „Widersacherische“, das der Automatisierung des Lebens widersteht, die „Körperschrift“. Die Schrift des Körpers und nicht die Bemalung der Körper mit Tattoos, die lediglich ein induktiver (ableitender) Reflex der Popkultur auf die deduktive (vorhandene) Veränderung der Gesellschaft durch die Digitalisierung ist. Der „Bodytext“ als bildlich sichtbar gemachte Sprache der Körper ist eine „Abduktion“ (27), ein gestisches Wegführen vom Körper zum Bild, das als Körpersprache decodierbar ist. So ist die Intuition der „wilden Semiotik“ – auf und unter der Haut – die existentielle Antwort auf die durch Technik gesteigerte Rationalität des modernen Lebens. Die Natur hat nie geschwiegen, jetzt spricht sie wieder lauter. So kann das Dilemma das der „Heilige Geist“ als „Denker des Denkens“ (Gott) angerichtet hat, das die rationale Aufklärung lediglich zum „Ding“, zum „Denker ohne Eigenschaften“ (Objektivät) reformierte, das durch programmierbare Techniken als „Denker ohne Denken“ (KI) Menschen wie Maschinen denkt, nur im „nous“ – dem „Gedanken ohne Denker“ (28) – aufgelöst werden. Endlich offenbart sich die „Selbstentfaltung der Existenz“ als „Indigenialität“, als „evolutionäres Nichtwissen“ das durch „Logik“ nicht nur nicht erkannt, in eine Sackgasse führt. So trifft Ludwig Wittgenstein exakt den Punkt, wenn er schreibt:„Die Lösung des Rätsels des Lebens in Raum und Zeit liegt außerhalb von Raum und Zeit“ (29).

Denn „Raum und Zeit“ sind Phänomene des Denkens, sind Bemessungen mit denen die Erkenntnis ihren „Denkraum“ sich eröffnet, der vom „nous“, der „freien Rede“ vor dem „logos“, nicht betreten wird. Denn das „nous“ – die „irrationale Vernunft“ – ist nicht narzisstisch, weder der fleischgewordene „Heilige Geist“ der Bibel, noch die „absolute Seele“ von Platon, die „absolute Idee“ von Hegel, oder das „absolute Ich“ von Fichte, auch nicht das zweifelnde „Ich denke“ von Descartes, nicht die „Enteignung der Enteigner“ durch die Pariser Kommune oder das „Proletarier aller Länder vereinigt euch“ des Kommunistischen Manifestes. Er ist das Gegenteil: Die „Intersubjektivität“, „Ich bin, weil du bist“, das „große Mitgefühl“. So können wir nicht über die „Eigentumsfrage“, weder durch Privat- noch Staatseigentum, weder durch den Glauben an Religionen noch das Wissen der Forschung, weder durch einen „Neuen Menschen“ noch eine „Neue Welt“, die „Befreiung vom Leid“ erreichen. Die „rationale Aufklärung“, die antrat das zu schaffen, verlagert die Dualität zwischen Körper und Geist lediglich in den „Freien Willen“ und damit in das Individuum hinein. Der Aufgeklärte bekommt die „Weltordnung“ als „Privatsache“ aufgebrummt und kann sehen wie er mit der Spaltung, die ihn als Mensch zerreißt, fertig wird. Er ist damit komplett überfordert und muss erkennen, dass es keine App(likation) dagegen gibt…

In diesem Moment erweist sich das „Tun ohne Tun“ als revolutionäre Antwort. Indem das Ego, der Macher in sich verschwindet, hört das Ich auf als Über-Ich das „Nichtwissen“ zu kontrollieren und der Mensch kann sein, was er immer war, ist und bleibt: Ein Teil des Ganzen. So schließt sich der Kreis. Das Geniale – „Über-Ich“ – löst sich in das Indigeniale – „Es“ – wieder auf und die „Logik“ kann sich beim „Logos“ bedanken, dass es den „nous“ (das „Tao“) kennt. „Das Wunder, das den Lauf der Welt und den Gang menschlicher Dinge immer wieder unterbricht und vor dem Verderben rettet, ist schließlich die Tatsache der Natalität, das Geborensein, welches die ontologische Voraussetzung dafür ist, daß es so etwas wie Handeln überhaupt geben kann“ (30). Ein „Tun ohne Tun“ (31), mit dem wir „wieder werden, wer wir nie waren“ (32)…


(1) Aleida Assmann, „Im Dickicht der Zeichen“, Suhrkamp, Frankfurt a.M. 2015

(2) Aleida Assmann, „Erinnerungsräume: Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses“, C.H. Beck, München 1999

(3) Marcel Proust, „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ – Die wiedergefundene Zeit, Band 2, Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1961

(4) Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral“

(5) Marcel Proust, „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ – Die wiedergefundene Zeit, Band 2, Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1961

(6) „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, Einleitung, MEW 1, S.381, Dietz Verlag, Berlin

(7) Paul Lafargue „Karl Marx, Persönliche Erinnerungen“, in „Die Neue Zeit“, Hrsg. K. Kautsky, 9.Jahrgang, Bd.1 – zitiert aus dem Vorwort von Barbara Zehnpfennig zu „Ökonomisch-philosophische Manuskripte“ von Karl Marx, Felix Meiner Verlag, Hamburg 2005

(8) Bertolt Brecht, „Die Mutter“, S.90, Rowohlt Taschenbuch, Reinbek, 1967

(9) Marx/Engels „Manifest der Kommunistischen Partei“, S. 47, Verlag für fremdsprachige Literatur, Peking 1975

(10) ebenda, S.61

(11) Karl Marx, „Ludwig Feuerbach und der Ausgang der deutschen Philosophie“, These 11, MEW, Bd. 3, Seite 533, Dietz Verlag Berlin, 1969

(12) Karl Marx: „Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik – Kritische Schlacht gegen den französischen Materialismus“, MEW Bd. 2, S. 131-142. Dietz-Verlag, Berlin 1957

(13) zitiert aus Peter Sloterdijk, „Zur Welt kommen – Zur Sprache kommen“, S.7, Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1988

(14) In ihrem Buch „Haltung: Essay gegen das Lautsein“, setzt sich Mely Kiyak mit der Empörungskultur auseinander, die schreit, wenn es zu spät ist, statt zuvor Haltung zu beweisen…

(15) Andreas Weber, „Indigenialität“, Nicolai-Verlag, Berlin 2018

(16) „Wir sind alle Wilde“, sagt Andreas Weber und verdeutlicht, dass unsere Zivilisation nicht nur die Indigenen kolonialisiert hat – sondern auch unser eigenes Denken. Wild bedeutet dabei nicht regellos im Sinne von Hobbes, sondern offen für den Austausch in einer Welt der Gegenseitigkeit.

(17) Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, „Dialektik der Aufklärung“, S.15, Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 1969

(18) Michael Tomasello: Menschliche Wesen unterscheiden sich von anderen Lebewesen durch ein „koevolutionäres Prinzip“: „Fähigkeiten, die durch Reifung entstehen, schaffen die Möglichkeit neuer Arten von Erfahrungen und Lernen, und anschließend sind diese Lernerfahrungen die unmittelbaren Ursachen der Entwicklung“, „Mensch werden. Eine Theorie der Ontogenese“, S.57, Suhrkamp, Berlin 2020

(!9) Peter Sloterdijk, Titel: „Zur Welt kommen – Zur Sprache kommen“, Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1988

(20) Ernst Bloch, „Experimentum Mundi“, Werkausgabe Bd. 15, S.235, Suhrkamp, Frankfurt a.M., 1977. „(…) mit der Entmythologisierung fiel also stark auch der Gegenstand weg, der in jeder Mythologie des Bösen doch so stark angetroffen und erfahren schien. (…) Die Säkularisierung des Rests (…) blieb aus, wenig oder nichts wurde hier auf die Füße gestellt.“

(21) Ernst Bloch, (ebenda) S.231

(22) Johann Gottfried von Herder, „Aphorismen“: „Was geboren ward, muß sterben; /Was da stirbt, wird neu geboren ./ Mensch, du weißt nicht, was du warest; /Was du jetzt bist, lerne kennen,/Und erwarte, was du sein wirst.“

(23) Der Begriff geht auf Sokrates zurück, der der Sohn einer Hebamme war, die in der Antike, im Gegensatz zu heute, nicht nur Ermöglicherinnen des Lebens waren, das nicht Lebensfähige auch töteten.

(24) Die mechané ( griechisch : μηχανή , mēkhanḗ ), Mechanismus oder Maschine war ein im 5. und 4. Jahrhundert vor Christus an griechischen Theatern verwendeter Kran, der aus Holzbalken und einem Flaschenzugsystem bestand. Mit ihm wurde ein am Kran hängender Schauspieler, im „Flug“ aus der „Luft“ in das Bühnengeschehen eingeführt um beim Zuschauer die Überwältigung zu erzeugen, die Gläubige erfahren, wenn der Angebetet zu ihnen spricht… Daher der lateinische Begriff deus ex machina („Gott aus der Maschine “).

(25) Martin Burckhardt, „Philosophie der Maschine“, Klattentext, Matthes & Seitz, Berlin, 2018

(26) Zitiert aus: Hélène Parmelin, „Picasso dit“, Paris 1966

(27) Als erkenntnistheoretischer Begriff wurde die bis dahin nur in der Orthopädie geläufige „Abduktion“ vor hundert Jahren von dem US-Philosophen und Logiker Charles Sanders Peirce eingeführt. Er steht hier für das  (vom Körper) „Wegführen“, die „Induktion“ für das „Hineinführen“ und die „Deduktion“ für das „Ableiten“

(28) Mark Epstein, „Gedanken ohne Denker – Wechselspiel Buddhismus Psychotherapie“ , Windpferd Verlag, Aitrang (Bayern), 2011

(29) Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus“, Werkausgabe, Bd 1, Suhrkamp, Frankfurt a.M.

(30) Hannah Arendt, aus der „Vita activa oder Vom tätigen Leben“, S. 273, München, Piper, 1981

(31) Laotse, „Tao-Te-King“, Kapitel 37, Vers 85, „Der Weg ist ewig ohne Tun; /Aber nichts, das ungetan bliebe.“, Reclam, Stuttgart, 1979

(32) Michel Foucault, zitiert aus dem Gespräch mit Marion Bourbon, „Die Suche nach unserem Innersten bringt keineswegs Ruhe“, Philosophie Magazin, Sonderausgabe 18, „Die Stoiker“, Berlin 2021

(Oktober 2021)