DER NOUSLETTER II

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Der „Nousletter“ ist auch ein „Newsletter“, doch seine „News“ sind „Nous“, altgriechisch: nonverbale Vernunft, geistiges Sehen der sprachlich nicht fassbaren Wahrheit.


Die Postmoderne ist nach dem Eintreten in die Zeit, das ist die Moderne, keine neue Zeit, sie ist das Zeitlose, dass sich in der Zeit nicht verliert …


Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.

(Albert Einstein)


I.

Vor hundert Jahren versuchte der Surrealismus das „Schöpfertum“ auch in der Kunst zu überwinden. Das Bild sollte nicht durch, es sollte durch den Künstler hindurch geschehen. Dafür musste das Bild spontan das vorgedachte dekonstruiert werden. Picasso war darin so erfolgreich, dass ihm zum Schluss seines Schaffens nur der Satz blieb: „Die Malerei (ohne Schöpfer?) muss erst noch geschaffen werden“. Da stand wieder einmal die Frage im Raum, was ist Kunst und was der Künstler? Marcel Duchamp gab mit der Umdeutung eines Pissoirs zum Springbrunnen darauf eine spektakuläre Antwort, die in eine ganz andere Richtung wies: zur „Idee“. Die Moderne löst mit der „Idee“ – „Jeder Mensch ist ein Künstler“ (Beuys) – die „Arbeit“ ab, durch die traditionell das „Werk“ als Kunst definiert wurde. Andy Warhol wird daraus die Vervielfältigung einer Idee machen und mit dem Gedanken „In Zukunft wird jeder für 15 Minuten weltberühmt sein“, das Internetzeitalter, in dem der „Influencer“ der Multiplikator von Ideen Künstler ist, vorwegnehmen. Vorweggenommen wurde damit aber auch das Verschwinden der Kunst in einer anderen Form des Journalismus, den wir auf den Documentas erleben oder des Designs auf den Biennalen. Das wiederum macht die Rudimente der Kunst transparent und barrierefrei, indem ihre Kernkompetenz, dass Staunen über die existentielle Vollkommenheit in ein Staunen über das synthetisch vollkommen Neue umgedeutet wird, sodass das, was Kunst zur Kunst macht, „das Geistige in der Kunst“ (Kandinsky) unpopulär wird.

II.

Geistige Ekstase, in der das Bewusstsein dem Erleben und nicht dem Erdachten folgt, fanden die Surrealisten u. a. in der „écriture automatique“ die durch Entdeckungsreisen ins Unbewusste dem „Erkenne (dich) selbst“ Flügel verleihen sollte. Als Kunstform gelang es ihr jedoch nicht, dem Absichtslosen eine neue Dringlichkeit zu geben, kam das automatische Schreiben (Bilden) nicht über die Ergebnisse der Psychoanalyse hinaus. Wie in ihr fand auch in der Kunst lediglich eine Dekonstruktion statt, die das fixierte Bild in seine Einzelteile auflöst. Was in der Analyse heilsam wirkt, denn das Selbst als Demiurg der eigenen Welt hat nun eine neue Ich-Erzählung, bleibt in der Kunst unvollendet, wirft die Frage auf, wer oder was ist nach der Dekonstruktion der Schöpfung der Demiurg? Hier zeigt Kunst den Webfehler der rationalen westlichen Aufklärung, die die Schöpfung lediglich säkularisiert und nicht in die Selbstentfaltung der Existenz auflöst. So denkt die Moderne sich das Ich wie das Wetter und das Selbst wie das Klima, mit dem die Icherzählung beständig wird. Den Tod überdauert sie nicht, das gelingt dem Ego, das die Selbsterzählung zur absoluten Idee objektiviert. So wird der Gott zum Jedermann, indem das absolut Wahre, Gute und Schöne, das im idealistischen Denken der kosmische Ausgangspunkt ist, im materialistischen Denken zum Ziel wird, das an das Ende der Geschichte rückt. Das, so prophezeien es die Entwickler der KI, immer näher rückt, indem die Virtualität Gott gleich den Menschen vom Kreuz der Sterblichkeit befreit. Denn psychologisch gesehen ist der Verlust eines aufgebrauchten Körpers kein Problem, die Tatsache, dass der Verstand den Anfang nicht an das Ende zu knüpfen vermag, hingegen schon. So kreuzt das lineare Denken die existenziellen Kreisläufe, in denen Anfang und Ende identisch sind. Wird das Kreuz aufgehoben, ist jeder Moment in der vergänglichen Zeit ein Moment der Ewigkeit und der tatsächliche Tod eine Erlösung. Das erreichen Religionen, indem sie den Geist des Lebens in Gestalt eines Gottes visualisieren, versuchen Wissenschaft und Technik, in dem sie einen Avatar virtualisieren. Allein der internalisierte Gott ist für Gläubige der Schöpfer, der externalisierte Avatar für Aufgeklärte hingegen ein Endgerät.

III.

„Wer Kalligrafie versteht, der achtet nur auf den geistigen Rhythmus und nicht auf die Form der Schrift“, sagt Chang Huai Kuan in seiner Schrift „Shu Tuan“ (Beurteilung der Kalligrafie). Das Auge folgt hier nicht der Regel, es benutzt nicht „Fischnetz und Schlinge“, es erkennt den Rhythmus, das „Tao“, wie Laotse den Weg nannte. Diese Weisheit bildete sich in einem Land heraus, das weder eine Religion noch einen Gott kultiviert hat, was, wie die Geschichte Chinas zeigt, auch nicht vor Ersatzreligionen und -götter schützt. Dennoch tritt hier das bewusste Sein ins Bewusstsein, das, woran der Geist sich orientiert, wenn er keine Geländer mehr hat. Exakt das ist unsere krisenhafte Gegenwart nach der Götterdämmerung, nach dem Sterben der aus dem Jenseits gegebenen Ordnung durch den Fortschritt im diesseitigen Denken und Handeln der Menschen, zeigt jetzt der Zusammenbruch der Ideologien die Systemdämmerung, das Sterben der diesseitigen regelbasierten Ordnungen. Was wir auch tun, weder der Planet Erde noch das Leben auf ihn lässt sich als Ganzes in Gedanken, Formeln, Algorithmen fassen, weder symbolisch aus dem Jenseits regieren noch im Diesseits skalieren. Die „Schöpfung“ rebelliert gegen ihre Schöpfer und wir begreifen, wenn auch bitter und reichlich spät, dass wir das Regelmäßige erkennen, doch mit ihm von Interessen geleitet am Rhythmus der Existenz vorbei regeln. So entdeckt der menschliche Geist nach der Fixierung auf den außerirdischen Gott nach der Fixierung auf die diesseitige Regel das Denken ohne Geländer, das auf zwei Beinen steht, dem bewussten Sein in der Selbstwirksamkeit.

IV.

So fußt mein Denken in zwei verschiedenen Kulturen und Zeiten und versucht mit einem Quantensprung das torlose Tor wieder zu öffnen, vor und nach dem die Unterschiede irrelevant sind. Das ist möglich, indem die Kernfrage „Haben oder Sein“ (Erich Fromm) neu beantwortet wird. Das fernöstliche Sein ist streng altruistisch gedacht, hier verschwindet der Maler im Bild, weil es nicht um Selbstwirksamkeit, um ihr verschwinden geht. Das hat in der Konsequenz zur Folge, dass es in der chinesisch-japanischen Kunst Meister gibt, die die Weisheit an ihre Schüler weitergeben, doch sich selbst nicht darüber erheben. Denn hier wird weder eine Schöpfung noch ein Schöpfer hervorgebracht, hier verfolgt die Vertikalspannung die entgegengesetzte Richtung: die Auflösung im reinen Geist. So bleibt die traditionelle fernöstliche Kunst letztlich Ritual. Anders die westliche Kunst, die das Genie hervorbringt, indem sie sich streng hedonistisch dem Haben dem besonderen Geschmack zuwendet und durch ihn den Künstler als Schöpfer einer neuen Form hervorbringt, die Gott gleich eine Welt erschafft. Hier zeigt sich exemplarisch der „Skandal der Vernunft“, wie Kant ihn erkannte. Die reine Vernunft des Seins geht im Haben der praktischen Vernunft verloren und die praktische Vernunft bleibt in der reinen Vernunft bedeutungslos. Doch dieser Skandal existiert nicht real außerhalb des Menschen, allein real in uns durch das lineare Denken, das vom Erdachten und nicht vom Erlebten ausgeht. So haben sich beide Denksysteme in der Reinheit ihrer Linien festgebissen und können das Einfache nicht mehr verstehen: das Sein existiert nicht ohne Haben und das Haben nicht ohne Sein.

V.

Erst jetzt, wo die „Neue Welt“ des politischen Westens, dass vom Menschen als „zweite Natur“ Nachgebaute sich ausgerechnet im Fernen Osten (China, Japan, Korea), wo der technische Fortschritt als Wiedergeburt des altruistisch Geistes verstanden wird, sich in eine selbstprogrammierende „dritte Natur“ verwandelt und zeitgleich der Fortschritt des Westens ökologisch, ökonomisch und geopolitisch dramatisch und katastrophal scheitert, sodass das „Weiter so“ nicht mehr widerspruchslos über die Lippen geht, beginnt ein postmodernes Denken, dass kritisch auf die Moderne zurückblickt, weil der Glaube an den unbegrenzten Fortschritt die Lebensgrundlagen der Menschheit infrage stellt. Wieder erleben wir eine „Kopernikanische Wende“, in der der Mensch den Glauben an eine Scheibe aufgeben musste, von der er annahm, dass er auf ihr lebt, nun 2.0, in der wir die Scheibe des technischen Fortschritts verlassen, sehend Freiheit ist mehr. Denn wie der Planet Erde, auf dem wir ja immer noch wie auf einer Scheibe leben, als Scheibe gedacht zum Zentrum des Universums aufsteigt und diese Sonderstellung als Orange verliert, steigt der technische Fortschritt höher, schneller, weiter in eine vollendete Zukunft auf, die, je näher wir ihr kommen, weder vollendet noch Zukunft ist. So wurde aus dem industriellen Wohlstand, der die Menschheit von den Fesseln der Natur befreien sollte, eine CO2-Befreiungsfront, die die Menschheit noch mehr an die Natur fesselt, indem sie die Lebensgrundlagen des Menschen infrage stellt. Doch der „Tanz auf dem Vulkan“ ist noch nicht vorbei, das „Höher, Schneller, Weiter“ ist noch nicht gebrochen, die Gier will mehr. Warum?

VI.

Weil der Mensch mehr ist. „Die Menschen existieren nicht nur wie alle irdischen Wesen im Plural, sie tragen die Signatur dieser Pluralität in sich“. (Hannah Arendt). So meint „der Mensch“ weder den Menschen noch die Menschen, das nomen est omen meint das Ego, das sich von der „Signatur der Pluralität“ distanziert. Denn anders als Arendt, die auf das Selbst blickt, projiziert das Ego die Pluralität in die „Menschheit“ und wird so zum Schöpfer der „Historie“, die mit der Idee der Unsterblichkeit mit einem göttlichen Ego im Jenseits begann und sich säkularisiert im technischen Fortschritt materialisiert. So produziert das „System Menschheit“, ob kapitalistisch oder sozialistisch, ideologisch oder technologisch, eine synthetische „zweite“, demnächst „dritte Natur“, die alles zum „unendlichen Wachstum“ zwingt. Doch auch der muss sterben, alles beugt sich der Annihilation. Es sei denn, wir wechseln die Perspektive und betrachten das Sein statt vom Unsterblichen vom Ewigen, dann sehen wir die innovative Leere, die das Sein ermöglicht. Dann wird das Vergehen zum Entstehen und die „Signatur der Pluralität“ zum Quell der Selbstwirksamkeit. Dann ist das menschliche Leben ein „Band des Teilens“, wie die südafrikanische Stammesweisheit Ubuntu, das „Ich bin, weil du bist“ sagt. Dann ist Sokrates Selbsterkenntnis „Zwei in Einem“ zu sein unsere Intersubjektivität und sagt uns sein wissendes „Ich weiß, dass ich nichts weiß“, dass wir dem Unfassbaren nur im Nicht-Wissen begegnen können.

VII.

Bleibt die Frage, wie das „Sein und Haben“ die reine und die praktische Vernunft wieder zusammen finden können? Mit einem Haben, das das Sein als Wellness versteht, ist das ausgeschlossen. Denn das Ego will mehr als ein Ich, es will nicht nur das für ein Leben in Freiheit und Wohlstand Notwendige, es will alles. So funktioniert der Wachstumsmotor mit oder ohne fossile Energie. Und als Sein das altruistisch dem modernen Haben aus Konsum und Gehorsam folgt, ist es ebenso ausgeschlossen. So hat uns in beiden Fällen der patriarchale Irrsinn, die Natur in uns überwinden zu wollen, die Probleme eingebracht, vor denen wir heute stehen. So besteht die kopernikanische Wende 2.0 darin, vom Ewigen statt dem Unsterblichen aus zu denken. Nur so ist und bleibt die reine Vernunft leibhaftig das Ebenbild des Menschen und ist dieses weder Gott, Tier, Maschine. Nur so orientieren wir uns am innovativ Ewigen und nicht mehr am innovativ Möglichen. Dazu laden meine Bilder ein, die bis auf Borke und Geste dekonstruiert sind und einst von Malern in der Absicht „Mit allen Mitteln der Kunst nichts erzählen“ (Gerhard Richter) geschaffen wurden – dennoch mit den Mitteln der Kunst alles erzählen. Es ist das Staunen über diesen Kippmoment, in dem das Schöpfertum in der Kunst tatsächlich abgeschafft ist, der meine Arbeit prägt. Aus dem Nichts, das ein All(es) ist, ist plötzlich „Doxa“ die Welt Jenseits des bereits Gedachten da und wir Staunen über die Vollkommenheit, die hier und jetzt keine feste Form mit ganzer Seele die Spur der Lebendigkeit ist. Kunstvoll entstanden bleibt die Performance eine Schöpfung ihrer Zeit, doch ohne Schöpfer. So ist das Ewige unsere Zeit.

Das Wunder, das den Lauf der Welt und den Gang menschlicher Dinge immer wieder unterbricht und vor dem Verderben rettet, ist schließlich die Tatsache der Natalität, das Geborensein, welches die ontologische Voraussetzung dafür ist, daß es so etwas wie Handeln überhaupt geben kann“.(Hannah Arendt)

(August 2022)

Mehr lesen: DER NOUSLETTER I („Wie wir wieder werden, wer wir nie waren“)