KEIN ZUFALL – ONTOLOGISCHER REALISMUS

Veröffentlicht 6/2017

Als vor hundert Jahren die Surrealisten, namentlich Max Ernst, dazu aufriefen, nach Staat und Wissenschaft, endlich auch in der Kunst das „Märchen vom Schöpfertum“ zu beenden, da rückten Konzept und Zufall in die Lücke, die das „Genie“ hinterließ. Marcel Duchamp ließ drei ein Meter lange Fäden aus ein Meter Höhe auf eine schwarze Leinwand fallen und nannte das Bild „Die 3 Musterfäden“. Niki de Saint Phalle schoss mit dem Luftgewehr auf mit Farbe gefüllte Luftballons und Jackson Pollock nannte seine Klecksografie „action painting“.

Doch schon in diesen Arbeiten, wie in den „Schematas“ von Götz, dem „la táche“, den Flecken von Michaux oder den „Rakelarbeiten“ von Richter, zeigt sich etwas anderes. Das: „Erkenne (dich) selbst“. Das fließende Wissen: Panta Rhei. „Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen. – Wer in denselben Fluss steigt, dem fließt anderes und wieder anderes Wasser zu. – Wir steigen in denselben Fluss und doch nicht in denselben, wir sind es und wir sind es nicht. – Verbindungen: Ganzes und Nichtganzes, Zusammengehendes und Auseinanderstrebendes, Einklang und Missklang und aus Allem Eins und aus Einem Alles.“ (Heraklit). Wird dieses Wissen zum Bild gefasst, geschieht das nicht mit dem Duktus einer Idee, Berechnung oder Konzeption, nicht nach dem Text einer Logik. Es geschieht mit dem BODYTEXT, mit dem Mitgefühl, dem Trieb, der Intuition und dem Spiel der Körpersprache, der „freien Rede“ aus der „Gedankenleere“, dem „Logos“ im „Daseinsstrom“.

Eine mit der Hand – ob mit Pinsel, Feder, Rakel oder Spritzern – ausgeführte Linie macht spontan zwei Aussagen. Sie ist Für sich: Kontur und In sich: Fluss. Folgen wir der Kontur teilt die Linie den Raum in Oben und Unten, Links und Rechts, Form und Leere, Raum und Zeit. Die Aufmerksamkeit folgt der gelenkten Assoziation und sieht einen Standpunkt, ein definierbares Gegenüber, gar ein Heiligenbild, die Ikone. Die dem ichbezogenen Verstand als Vorbild dient für die Dualität seines Denkens. Für die positiv-negativ Ontologie. Die Lehre des dualistischen Seins. Folgen wir dem Fluss passiert etwas ganz anderes. Wir verlassen die gelenkte Assoziation der positiv-negativ Ontologie und folgen dem Rhythmus der Linie, der Kalligrafie der freien Assoziation ins „Jenseits von Gut und Böse“ (Nietzsche). Wir springen vom „Teile und herrsche“ in das „Alles ist mit allem verbunden“, in die Intuition des „Daseinsstroms“ (Buddha). Der an keiner Form, keiner Leere anhaftend, in keinem Raum, keiner Zeit verhaftet, durch die Zweieinheit von Körper und Geist All(es) ist. „Nada Brahma“ – die Welt ist Klang.

Wie in der analogen Fotografie, in der das Negativ dem Positiv, eine innere Gestalt der äußeren Form vorausgeht, geht das Vorbewusste dem Bewussten, die Gedankenleere dem Gedanken, die freie Rede der Rede, die NichtMacht der Macht, das NichtIch dem Ich, der Logos der Logik und damit die Wirklichkeit der Realität voraus. Dem Fortschritt in die positiv-negativ Ontologie, der das Geschehen an die äußere Form bindet, ihm, befreit von der „Gestalt des Gestaltlosen“ (Laotse) – der Unfassbarkeit des Geistes, notwendig eine eigene (Ver)Fassung, eine Allmacht unterstellen muss. Ob „Ursprung“ (Religion), „Urknall“ (Wissenschaft), „Urform“ (Kunst), „Ursache“ (Ideologie) oder „U(h)rzeit“ (Ökonomie), „U(h)rwerk“ (Technologie), Wahrheit duldet keine andere Wahrheit neben sich, bezeugt sich tautologisch als Allmacht. Sie teilt die ganzheitliche Wirklichkeit in Gut und Böse, Ursache und Wirkung, Richtig und Falsch, Geist und Materie, Mann und Frau, Abstrakt und Gegenständlich, Plus und Minus, Arm und Reich, Alt und Jung und Neu…, behauptet mit Form(el), Wort, Zahl, Schrift, Symbol, Konzept eine „zweite Natur“ (Hegel). Die den Sieg der Vernunft über die „selbstverschuldete Unmündigkeit“ (Kant) verkündet, die naiv nicht reflektierte: „Was kommt dabei raus?“ (ebenda). Der Sozialismus wollte den Zug der Rationalisierung mit einer ideologisch-technischen Revolution beschleunigen und entgleiste, weil der Zug die Schienen nicht überholen kann. Im silicon valley wird die Verbesserung der „Weltverbesserung“ mit kapitalistischem know how wieder flott gemacht.

Sein oder Nichtsein, Intuition oder Projektion, lautet die Frage. In der Projektion sind wir der Dirigent – im Nichtsein. In dem Glauben, die von uns geschriebenen Noten machen die Musik. In der Intuition sind wir Sein – ein Instrument des Werdens, durch das die Musik eines sich selbst genügenden Universums erklingt. So ruht die Intuition in sich, im Nicht-Ich, dem nobjektiv Vorbewussten. Das bereits pränatal im Mutterleib erwacht und postnatal, nach dem Eintritt des Bewussten in das Ich, nach dessen Identifizierung mit Form, Leere, Raum und Zeit, das Unterbewusste bleibt. Dieses Bewusstsein ist, wie der Kulturwissenschaftler Thomas Macho sagt „nobjektiv“. Weil es in einer „Zweieinheit“, pränatal von Mutter und Kind, postnatal von Körper und Geist, weder Objektivität noch Subjektivität geben kann und ohne Dualität keine Identität entsteht. So dass uns das Leben in der Gestalt des Nicht-Ichs begegnet. Der Symbiose von Körper und Geist, Mensch und Universum. Dieses Glück der absoluten Freiheit kennt die „zweite Natur“, das  säkularisierte Sein nicht. Dessen relative Freiheit basiert auf dem Ego, das sich vom alten Alter Ego, von der Rückbindung an das Nicht-Ich, losgesagt hat und die „Neue Welt“ allein auf seinen Schultern trägt. Indem der sechste Sinn, das Ich denke, sich von den fünf anderen isoliert, so die Kognition über die Emotion zum „Über-Ich“ erhebt. Das fortan „Ich“ und „Es“ beherrscht (Freud), „Trieb“, „Freude“, „Mitgefühl“ und „Spiel“ rationalisiert. Befreit von der Emotion und deren Rückbindung zur Intuition ist der Geist zur Kognition und deren Fortschritt in die Projektion gezwungen, sieht er im „Höher, Schneller, Weiter“ sein Glück, im „Weniger ist mehr“ das Unglück. Was die Vernunft auch macht, sie kommt von ihrer Unvernunft (dem linearen Denken) nicht los.

Die Aufklärung hat Staat und Kirche getrennt, die Wahrheit trennte sie dabei nicht vom Absoluten. Weil sie zur Allmacht strebte, die sie der Religion entriss. „Was du nicht siehst, so sehr du danach schaust, des Name ist: plan. Was du nicht hörst, so sehr du danach lauschest, des Name ist heilig. Was du nicht fängst, so sehr du danach greifst, des Name ist subtil. Diese drei kannst du nicht weiter erkunden; wahrlich, chaotisch sind sie zum Einen verbunden. (…) Wer ihm sich naht, kann keinen Kopf erblicken; und wer ihm folgt, erblickt nicht seinen Rücken“. So beschreibt Laotse das Absolute, das nicht identisch ist mit der Wahrheit. Die Wahrheit ist das Ganze des Ganzen, das rational fassbar ist. Das Absolute ist hingegen irrational, größer und umfassender als Logik erlaubt: Ein „Strararaßenkreuzer“. Wird das Absolute mit der Wahrheit gleichgesetzt, wie es die Religion macht oder durch die Wahrheit ersetzt, wie es die Aufklärung macht, kommt es zu den Verwerfungen, die wir gegenwärtig in der Welt erleben. Wird das Absolute klar von der Wahrheit getrennt kehrt endlich Freiheit und Frieden ein. Weil nun der Wahrheit die Allmacht genommen ist und die Begegnung mit dem Absoluten weder Glaube noch Wissen – der Quantensprung in die Gedankenleere ist. So verwandelt sich die Ohnmacht des Menschen gegenüber dem Absoluten in eine Nicht-Macht. In das Nicht-Ich, das der freien Rede des Absoluten folgt. Der Kalligrafie der Gedankenleere. Der absoluten Freiheit, die „wir weder sehen noch beschreiben können, auf deren Existenz wir aber – (durch Kunst) – schließen können“ (Gerhard Richter).