GEHEIMNISVOLLE ZEICHEN

Veröffentlicht im September, überarbeitet im Dezember 2017

 

Mit der abstrakten Kunst tauchen im Bild geheimnisvolle Zeichen auf, die das betrachtende Auge fragen lassen: „Was will der Künstler uns damit sagen?“ oder das Auge vom Fragen befreien, indem sie es autorisieren das Bild selbst zu vollenden. IN Diesen Genuss absoluter Freiheit KOMMT das Auge IMMER DANN, wenn das Geheimnis einer AbsichtslosEn Geste entspringt. WENN dER GEIST DEM nICHT-ICH, DEM LOGOS DER SPIEGELUNG FOLGT, DER NICHT NICHT KOMMUNIZIERt. STECKT ABSICHT HINTER DER GESTE, HAT DER GEIST DIE INTUITION VERLASSEN, FOLGT ER DER LOGIK DER HANDLUNG. DEREN GEHEIMNIS ist ELITÄR. nur denen zugänglich, die wissen was das Künstler-Ich sich dabei gedacht hat…

Konfrontiert mit den Ergebnissen der Gestikforschung zeigen die absichtlichen und absichtslosen geheimnisvollen Zeichen fünf – lexikalische, zeigende, ikonische, metaphorische und rhythmische – Gestik-Arten. Die Lexikalische Geste – Daumen nach oben, Daumen nach unten – ist kognitiv, vorab definiert, will mit ihrer Festlegung etwas bestimmtes aussagen. In der bildenden Kunst machte Kandinsky daraus: „Das Zusammentreffen des spitzen Winkels eines Dreiecks mit einem Kreis ist von nicht geringerer Wirkung, als die Berührung zwischen dem Finger Gottes und Adams bei Michelangelo“. Auf Gesten dieser Art treffen wir auch bei Baumeister, Klee oder Miro. Die Zeigegeste weist im Leben spontan auf etwas hin. In der Malerei sagt sie: „Das ist eine Geste“ oder mit dem Furor der Kunst: „Ein Denkmal des Willens zur Macht“. Das gelang K.O.Götz meisterhaft. Die Ikonische Geste umfasst im offenen Raum mit den Händen symbolisch einen tatsächlichen oder abstrakten Gegenstand. Im Fußball ist das zur Zeit der „Videobeweis“. Der Schiedsrichter gestikuliert für den Bildschirm ein Rechteck. Eine „gestische Kontur“. Die im informellen Bild Emil Schuhmacher zur Meisterschaft brachte. Die Metaphorische Geste zeigt ein Sinnbild – „Ihm fällt die Decke auf den Kopf“ – wählt eine Stilfigur, die über die körpersprachliche Umschreibung zur Aussage gelangt. In der abstrakten Kunst schaffte Henry Michaux es mit simplen Tuschklecksen „Fleckenteppiche“ zu erzeugen, in denen das vergangene Jahrhundert sinnbildlich die Schlachtfelder des ersten und zweiten Weltkriegs sah. Bleibt die Rhythmische Geste. Sie gelangt durch Wiederholungen zur Aussage. Dafür stehen nonverbale Ausdrucksformen wie Musik und Tanz, im Bild spontane Strukturen, wie die „Drips“ von Jackson Pollock, die „Kritzel“ von Joan Mitchell oder die „Rakel“ von Gerhard Richter.

In der europäischen und amerikanischen abstrakten Kunst gilt das Arbeiten mit Farbflecken, Klecksen, spontanen Strichen und Gesten als „moderne Kunst“, dabei ist es „urewig“. Schon die Höhlenmaler nutzen die Flecken an den Wänden, die Formationen der Steine, um aus ihnen Tierkörper und Menschengestalten zu bilden. Leonardo da Vinci forderte 1492 in seinem „Traktat über die Malerei“ von seinem Schüler: „Wenn du dir gerade eine Landschaft ausdenken sollst, so kannst du dort – in »Gemäuer mit Flecken oder mit einem Gemisch aus verschiedenartigen Steinen« – „Ähnlichkeiten zu verschiedenen Landschaften mit Bergen, Flüssen, Felsen, Bäumen, großen Ebenen, Tälern und Hügeln verschiedener Arten sehen; ebenso kannst du dort verschiedene Schlachten und Gestalten mit lebhaften Gebärden, seltsame Gesichter und Gewänder und unendlich viele Dinge sehen, die du dann in vollendeter Form und guter Gestalt wiedergeben kannst“. 1715 schreibt der englische Maler und Kunsttheoretiker Jonathan Richardson in seinem Essay „Theory of Painting“: „Bilder sollten so konzipiert sein, dass sie aus der Ferne betrachtet, wenn man nicht ausmachen kann, welche Figuren dargestellt sind oder was sie tun, als Komposition von hellen und dunklen Massen erscheinen. Die Formen dieser Massen müssen angenehm sein, unabhängig davon, woraus sie gebildet sind, ob Boden, Bäume, Gewänder, Figuren und dergleichen. Alles zusammengenommen sollte lieblich und reizend sein, schöne Formen und Farben ohne Namen, von denen es eine unendliche Vielfalt gibt.“ 1759 und 1785 geht der englische Maler und Kunsterzieher Alexander Cozens noch einen Schritt weiter und fordert in zwei kurzen Traktaten, in denen er eine Erfindung zur Vereinfachung des Entwurfs von Landschaftsgemälden vorstellt: spontane, mit Pinsel und Tusche anzufertigende fleckenartige Zeichnungen, die er „blots“ – französisch „tache“, deutsch „Flecken“ oder „Kleckse“ – nennt. Obwohl Vincent Van Gogh meines Wissens diese Texte nicht kannte, setzt er einhundert Jahre später intuitiv diese Überlegungen genial um. Er hält noch am logischen Bildaufbau fest unterwirft aber die Bildordnung bereits dem Logos der Körpersprache. Was bis dahin der „vollendeten Form“ eines Landschaftsbildes diente, wird im 20.Jahrhundert schließlich als eigenständiger Bildaufbau freigesetzt. Als „Abstrakter Expressionismus“ in den USA, „Tachismus“ in Frankreich und dem „Informel“ in Deutschland, die die Frage aufwerfen: „Was will der Künstler uns damit sagen?“.

Plötzlich vollzieht sich in der modernen amerikanischen und europäischen bildenden Kunst eine paradoxe Wende. Als modern galt seit der Renaissance eine Aufklärung, die sich von der verborgenen Harmonie, dem Logos abwandte und der offenkundigen Harmonie, der Logik zuwandte. Weil die Götter, die das Weltinnen bewohnten, indem sie die psychologischen Eigenschaften der Menschen verkörperten, die Erde verlassen hatten und mit ihnen das nicht in Worte Fassbare: der Logos, jetzt als allmächtiger Schöpfergott, als „Am Anfang war das Wort“, wieder auftauchte, mit dem kein Weltinnen, nun das Weltaußen erschaffen wurde. Diese Unterwerfung der „Mutter Erde“ unter den „Gott Vater“ im Himmel stellte die moderne Aufklärung in Frage, doch nicht indem sie den Logos rehabilitierte, indem sie ihn in die Logik diesseitiger Naturgesetze verwandelte. So dass der Logos für den religiösen weiterhin Gottes Hand, für den säkularen hingegen zum Zufall wurde. Da Kunst per Definition „Können“ und kein „Zufall“ ist, stand schon die Renaissancemalerei vor einem Problem: Sie musste das Spontane, Handschriftliche aus ihren Bildern verbannen. Das kehrte nun aber mit Gewalt, als eigenständige Kunstform zurück und war plötzlich anti-modern modern. Eine Ästhetik, für die es keinen Kontext gab. So sprach man vom „kontrollierten Zufall“ und „Informell“, war sich dabei nur über eines im Klaren: Hier offenbart sich ein „ästhetischer Wille zur Macht“ (Sloterdijk). Allein welcher Macht man dabei so ohnmächtig gegenüber stand, blieb lange unklar. Während einige tausend Kilometer weiter östlich die arabische, chinesische und japanische „schreibende Kunst“ es schon seit Jahrtausenden schaffte mit Leonardos Worten: „Ähnlichkeiten zu verschiedenen Landschaften mit Bergen, Flüssen, Felsen, Bäumen, großen Ebenen, Tälern und Hügeln, (…) Schlachten und Gestalten, mit lebhaften Gebärden seltsame Gesichter und Gewänder und unendlich viele Dinge“ aus dem Ductus der Handschrift zu provozieren ohne dabei den Zufall zu vergewaltigen. Problemlos kann das „WuWei“, das absichtslose Tun, Gesten und Flecken zur erhabenen Kalligrafie bündeln. Nicht weil sie sich als „zweite Natur“ über das Leben erhebt, im Gegenteil dem Ductus folgt, der das Leben durchwebt. Wie das? Die östliche Abstraktion erfolgt absichtslos, oder besser: mit der Absicht die weltliche Absicht zu überwinden. Sie geschieht nicht durch den Künstler, sie geschieht durch ihn hindurch. Der Autor ist entweder „Allah“ (Islam), die „Gedankenleere“ (Tao) oder das „Nicht-Ich“ (Buddha). In der abstrakten Kunst des Westens passiert das Gegenteil: Der diesseitige Mensch tritt an die Stelle des jenseitigen Gottes. Das Genie steigt zum „absoluten Ich“ auf, zum Ersatzgott, der als „Selbstoptimierer“ die Autorenschaft auch für Gesten übernimmt, die nicht durch ihn, durch ihn hindurch geschehen sind, indem er sie als „geistiges Eigentum“ reklamiert.

Dabei hatten die Surrealisten, namentlich Max Ernst, 1934 in ihrem Manifest „Was ist Surrealismus?“ stolz verkündet: „Es gehört zu den ersten revolutionären Akten des Surrealismus, (den) Mythos – vom Schöpfertum des Künstlers – mit sachlichen Mitteln und in schärfster Form attackiert und wohl auf immer vernichtet zu haben“. Wir Heutigen wissen, dass das Wunschdenken war. Die Surrealisten haben den Kunstbegriff nicht zum Nicht-Ich erweitert. Sie blieben bei der Motorik, den automatischen oder automatisierten Tätigkeiten des Ichs stehen. Die „écriture automatique“, das automatische Schreiben, mit dem die Entbindung des Künstlers von der Autorenschaft gelingen sollte, hielt nicht nur dem gewaltigen Anspruch nicht stand, sie war mit ein Baustein für die „künstliche Intelligenz“. Die die Motorik der natürlichen Intelligenz mit dem Algorithmus digitaler Technik kopiert, so schneller und effizienter realisiert und seit neuestem das künstlich erschaffene Über-Ich in einer vom Milliardär und Robotikexperten Anthony Levandowski im Silicon Valley gegründeten Kirche: „Way oft the future“, als Gott anbetet. So greift auch der technische Fortschritt in letzter Konsequenz wieder in die Mottenkiste und unterwirft sich einer angeblichen Autorität aus dem Jenseits. Weil die Logik der Vertikalspannung ihm keine andere Wahl läßt. Der Mensch will mit ihr selbst Gott sein, was ihm aber nicht gelingt, weil er das Universum nicht verlassen kann, in dem er lebt. Soll der Geist sich aus dieser Sackgasse befreien und eine Nach-Gott-Ära begründen, muss er die Logik der Vertikalspannung verlassen und sich wieder dem Logos der Horizontalspannung zu wenden. Ohne dabei erneut im Aberglauben, bei Geistern und Göttern zu landen. Diesen Weg des „reinen Geistes“ skizziert das japanische ZEN, das aus einer Symbiose zwischen dem chinesischen Tao und indischen Buddhismus entstand und dessen Kalligrafen das absichtslose Tun „WuWei“ entdeckten.

Wird die Geste bewusst absichtslos ausgeführt, was im realen Leben unbewusst die Regel ist, kognitive Gesten machen nur einen Bruchteil der Körpersprache aus und die Masse der unbewussten Gesten wird nicht bewusst rezipiert, ist plötzlich alles umgekehrt. Der Geist kommuniziert nicht mehr mit dem Ich, sein Ebenbild ist nun das Nicht-Ich. Denn es ist nicht der Kopf, das „Ich denke“, das der Hand, der Handlung einer Geste vorausgeht. Es ist „Mister Umgekehrt“. Die Geste geht dem Gedanken und damit dem Wort voraus. Wenn zwanzig Männer oder Frauen hinter einem Ball herlaufen, lässt sich das vortrefflich beobachten. Erschöpft sprechen sie hinterher ins Mikrophon: „Wir haben uns in der Kabine vorgenommen den Gegner früh zu attackieren“, doch ihre Körpersprache auf dem Platz war eine andere. Sie mussten verlieren, weil sie das Nicht-Ich ignoriert haben, in dem Glauben ihr Ich sei stärker. So ist das Licht mit dem Schatten verbunden, ist jeder Fortschritt zugleich auch ein Rückschritt. So ist die Globalisierung durch Digitalisierung, die wir im 21.Jahrhundert erleben, lediglich ein technischer Fortschritt, keiner des Bewusstseins. In der Evolution hat sich das Gehirn mit dem Begreifen der Hand entwickelt. Das delegiert die Moderne an die Maschine und hat für den Menschen lediglich den Begriff, das kognitive Bewusstsein parat. Das kognitive Genie wird aber ganz offensichtlich mit den Schattenseiten seines „Schöpfertums“ (Religionskriege, Klimawandel, Hunger, Armut, Rassismus, Sozialismus, Kapitalismus…) nicht fertig, weil kognitiv die Identifizierung mit dem Schatten immer stärker bleibt als mit dem Licht. Weil das Licht das Ich zum Nicht-Ich entgrenzt, während der Schatten es zum Ich begrenzt. Als Nicht-Ich sind wir Teil des Nichts. Was für die Hand nicht ungewöhnlich ist. Für das Denken schon. Es ist das Etwas, das sich selbst behauptet. Das Ich, das sich zum Über-Ich aufschwingt und in der „moralischen Kampfzone“ stets weiß was zu tun ist. So bleibt das Bewusstsein im Ego gefangen. So sagte Nelson Mandela: „Es ist unser Licht, nicht unsere Dunkelheit, die uns am meisten Angst macht“. Denn der Mensch ist das Tier, das seinen Schatten liebt. Er sieht in ihm sein Ego, das er aus der Dunkelheit in ein Licht verwandeln will. Doch nicht in ein Nicht-Ich, zum Kaiser der Schattenreiche. Weil er das Leben mit dessen Verkörperung und den Geist mit dessen Verdinglichung verwechselt. So folgt er einem Trugbild und ist mit ihm nur ein trauriger Gast auf dieser Erde, der das „Stirb und Werde“ (Goethe), die „negative Ontologie“ des Lebens, als „horror vacui“ (Kant) fürchten muss und nicht als „grundloses Glück“ (Buddha) umarmen kann.

Doch wie soll ein Ich sein Licht, das Nicht-Ich erkennen, wenn sein Bewusstsein ein technisches „Ich denke, also bin ich“ ist? Wenn das dualistische Denken des Verstandes nur das Schattenreich, die Alternativen „Ich will“ oder „Dein Wille geschehe“, Macht oder Ohnmacht kennt? Wenn Wissenschaft nur pluralistisches Wissen erforschen kann und das singuläre Nicht-Wissen in Religionen projiziert wird, die das Weltliche nur als „zweitbeste Lösung“ ansehen und als beste Lösung für uns ihre „große Erzählung“ parat halten, mit der sich das weltliche Nicht-Wissen in ein göttliches Allwissen, in die „absolute Idee“ (Platon) einer „absoluten Autorität“ verwandelt. Die wiederum von einer „falsch verstandenen Aufklärung“ (Sloterdijk) in eine „absolute Logik“ (Hegel) transformiert wird. So dass die von Max Ernst erhoffte Abschaffung des Schöpfertums nicht nur eine Überhebung der Kunst war. Sie musste scheitern weil es im westlichen Denken kein Instrumentarium für das Nicht-Ich gibt. Wer anders dachte, zwischen den beiden Extremen Ohnmacht und Macht einen Weg ohne Macht, den „Weg der Mitte“ suchte, musste sich zwangsläufig in den fernen Osten begeben um von dort nicht-gedachtes, meditatives Bewusstsein zu importieren. Für die in der westlichen Aufklärung verhaftete Gestik-Forschung bedeutete das, dass sie den Gesten ohne Macht keinerlei Beachtung schenkte und über Jahrzehnte nur den marginalen Anteil kognitiv begründeter Gesten bedachte. Erst als die Computertomographie die Hirnströme nachzeichnen konnte wurde der „Mister Umgekehrt“ aufgeklärt, trat auch für die Gestikforschung ins Bewusstsein, was die Meditationstechniken der Kalligrafen schon seit Jahrtausenden zeigen, nur nicht veräußern, lediglich erinnern konnten: Die absichtliche Geste wird von „Handlungsneuronen“ und die absichtslose von „Spiegelneuronen“ ausgelöst. Dabei bilden die „Spiegelneuronen“, wie die „Handlungsneuronen“ ein Gedächtnis heraus, das auf der Handlungsseite ein Schattenreich, die „Weltanschauung“ und auf der Spiegelseite Luft und Licht, das „Mitgefühl“ ermöglicht. Endlich droht nicht mehr der Weltuntergang, weder stürzt das Denken ins Nichts noch muss der Mensch zum „Übermenschen“ mutieren, wie Nietzsche orakelte, wenn der Mensch die Vertikalspannung der jenseitigen „absoluten Idee“ verlässt und ganz profan der Horizontalspannung – der „Natur des Geistes“ folgt. Doch der Reihe nach…

Mit Hegel kam der Gründungsmythos des Abendlandes – die Vertikalspannung durch eine „absolute Idee“ – vom Himmel auf die Erde. Platon hatte die „absolute Idee“ noch im Jenseits, bei Zeus verortet und Hegel zeigte uns, dass der Mensch „historisch“ wird, wenn er aus der absoluten Idee eine „absolute Logik“ macht, mit der er seine Geschichte selbst in die Hand nimmt, erzählt und begründet. So wurde aus der „absoluten Idee“, die auch von den Propheten des Neuen Testamentes übernommen wurde: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort“ (Joh.1.1), bei den großen Aufklärern des Westens, Hegel und Kant, ein „negativer Gott“. Eine „sich selbst denkende Idee“ (Hegel), die als „absolute Logik“, „die absolute und alle Wahrheit“ ist (ebenda) und bei Kant der „kategorische Imperativ“, der das singuläre Wissen nur gelten lässt, wenn es zugleich auch ein plurales sein kann, das die Intuition strikt der Kognition unterwirft. Marx und Engels setzten diese rational aufgeklärte Logik auf die Gleise eines „historisch-dialektischen-Materialismus“, der, erneut als „große Erzählung“, den vom jüdisch-christlichen Gott aus dem Paradies vertriebenen Zug der menschlichen Geschichte in einen Himmel auf Erden, die „klassenlose Gesellschaft“ führen sollte, indem die Industrialisierung, namentlich in ihr das Proletariat, den „Grundwiderspruch“ zwischen Lohnarbeit und Kapital überwindet. Die Entgleisung des materialistisch-idealistischen Zuges gehört zu den Erfahrungen der jüngeren Geschichte. Die sozialistische Lok wurde durch eine kapitalistische ersetzt, die einst verstaatlichten Gleise sind inzwischen privatisiert. Allein der idealistisch-materialistische Zug des Geistes wurde dabei nicht hinterfragt. Selbst in einer vom hegelschen Idealismus der „absoluten Logik“ bereinigten, nur dem „kategorischen Imperativ“ von Kant verpflichteten Naturwissenschaft, thront die „absolute Idee“ noch über allem. Einstein begründete nicht nur die Relativitätstheorie, er verteidigte sie mit dem Satz: „Gott würfelt nicht“. Der Urknall – „big ben“ –  wird noch immer als ein Universum und Zeit erschaffener „negativer Gott“ gesehen, der nicht nur die „Schöpfungsgeschichte“ vor zigtausend Jahren neu erzählt, als „Gottesteilchen“ aktuell in Cern den Schlüssel zur „Weltformel“ liefern soll. Stets wird ein Etwas, eine Form, ein Modell gesucht, aus dem sich eine Vertikalspannung ableiten lässt, die den Menschen, dessen das „stirb und werde“ überwinden wollendes Handeln, erklärt. Die plausibel erscheinen lässt, warum der Mensch erst das Gottesreich, dann das Menschenrecht erschaffen hat, um daraus das Recht abzuleiten, den Menschen zu überwinden, weil dieser nicht der absoluten Idee entspricht. Nietzsche erfand für dieses Manöver eigens einen neuen Gott: seinen „Zarathustra“ und die KI den „Avatar“. Woher kommt dieser Selbsthass, den der Mensch der Evolution als Streben nach dem Höchsten unterstellt?

Der Mensch ist ein Drahtseilakt. Dessen Leben nicht gelingt, wenn es einseitig, entweder aus dem Samen, der Erektion einer Vertikalspannung, dem „Vater im Himmel“ oder allein aus dem Ei, der Horizontalspannung „Mutter Erde“ erklärt wird, noch indem diese Erklärungen als „gender“ – als sozial bedingt abgetan werden. Die den Erklärungen zu Grunde liegende Polarität ist ein Naturgesetz, dessen Dualität hingegen ein Produkt des Verstandes. Existentiell, als Fluss, bildet der Gegensatz eine Einheit, die der Verstand: „Teile und herrsche“, zum Selbsterhalt in einen Antagonismus verwandelt. „Panta rhei“ – alles fließt, antworteten darauf bei den alten Griechen die Philosophen den Schriftgelehrten. Als die „Liebe zur Wahrheit“ – die Philosophie noch dem „Logos“ – der „freien Rede“ – verpflichtet war und nicht der durch die Schrift in eine Form gebrachten „Logik“. Sie meinten damit analog zu den Buddhisten: den „Daseinsstrom“. Wir Heutigen sagen: das „Hier und Jetzt“. In das wir nicht zweimal steigen, es ist immer ein anderes, an dessen Ufern wir nicht stehen können, wir sind selbst Fluss (Heraklit). Buddhas Negation der Anhaftung geht noch einen Schritt weiter. Er lässt das westliche Substanz-Denken, das auch in der Metapher vom Fluss noch lebt, ganz hinter sich. Alles ist für ihn immer auch sein Gegenteil. „Form ist Leere und Leere ist Form. Form ist nicht verschieden von Leere und Leere nicht verschieden von Form“. So dass in dieser meditativen Sicht der Dinge der Weltuntergang ausbleibt, das Vehikel, das die Vertikalspannung des Substanz-Denkens an die Wand malt. Es passiert nichts, wenn die Logik sich die Erde nicht mehr untertan macht. Nicht nichts. Es entsteht Leere. Kein „schwarzes Loch“, in dem das Leben verschwindet. Eine helle, freundliche Leere – Atmosphäre – die zur Besinnung führt. Wie das? Weil der Geist ohne vorgegebene Antwort auf sich selbst zurückgeworfen ist, neurowissenschaftlich von den „Handlungsneuronen“ auf die „Spiegelneuronen“ umschaltet, metaphysisch vom Schattenreich ins Licht wechselt. So entsteht „Achtsamkeit“ (Buddha), wird „Mitgefühl“ (ebenda) entwickelt, kehrt das „Urvertrauen“, für Buddha der „reine Geist“ zurück. Weil das Nicht-Wissen immer größer bleibt als das Wissen und der „Anfängergeist“ treu der Frage ergeben ist, während der „Expertengeist“ an seinen Antworten klebt…

So ist „der Künstler (…) in gewisser Weise ein Neurowissenschaftler, der das Potential und das Fassungsvermögen des Gehirns erforscht, wenn auch mit anderen Mitteln“, sagt der Hirnforscher Semir Zekir. Oder: Die Kunst bildet heute keine Mythen mehr ab, findet nicht mehr den „goldenen Schnitt“ für die Realität, ist nicht mehr die Avantgarde einer „künstlichen Intelligenz“, stellt nicht mehr die „Systemfrage“. Sie kann nur noch „Avantgarde“ – Gegenentwurf sein, wenn sie, in einer Zeit, in der der Zeitgeist alles für machbar hält, nur seine Selbstbegrenzung nicht, eben diese Freiheit des Machbaren mit der absoluten Freiheit des Nicht-Machbaren konfrontiert: Indem sie den Zeitgeist zum raumlosen Geist dekonstruiert. Das versuche ich mit den bescheidenen Möglichkeiten der gestischen Malerei – dem NICHTNICHTBILD.