Rede: „von SELBST“

gehalten am 7.9.2019 in der „Kapelle am Urban“, Berlin-Kreuzberg

Liebe Freunde, Kunstinteressierte und Besucher,

wer meine Arbeiten verfolgt wird es vielleicht gleich erkannt haben: Aus meinen farbigen Arbeiten sind die kleinen schwarzen, hin und wieder auch weißen kalligrafischen Männchen verschwunden und zum ersten Mal stelle ich auch ältere Kalligrafien aus. Beides hat den gleichen Grund, der zum Namen dieser Ausstellung wurde: Das „von Selbst“. Mit ihm lehne ich mich einerseits an Nietzsches „von Ohngefähr“ an, an den „ältesten Adel der Welt“, mit dem sein Zarathustra die Dinge „von der Knechtschaft unter dem Zwecke“ befreit und bekunde andererseits, was mir tatsächlich widerfahren ist. Als ich ein zweites mal in meinem Leben Künstler werden wollte, da hatte ich einen absichtslosen, spontanen Strich. Ich habe ihn nicht gesucht, ich habe ihn gefunden, doch ich konnte mit ihm nicht an die Öffentlichkeit gehen, ein Bild bestehend aus einem Strich kam mir chinesisch vor. Erst als es mir gelang mit dem Rakel die Farbe und Fläche genauso absichtslos zu bearbeiten war ich von selbst ein „von Selbst“

Mein Bild positioniert sich zwischen dem westlichen „Informel“ und der „fernöstlichen Kalligrafie“, zwi-schen dem abstrakten Bild ohne feste Form und absichtslosen, ohne Reflexion und Imagination ausgeführten Strichen und versucht diese gegensätzlichen Kunstkonzepte zu vereinen. Das ist zunächst einmal nicht neu, Künstler wie Hartung, Bissier oder Michaux haben bereits im vergangenen Jahrhundert diese Herausforde-rung angenommen, sind aber stets in den westlichen Kontext von Intellekt und Imagination zurückgekehrt. Michaux blieb die Ausnahme, er versuchte vor oder hinter das Vorstellen und Denken zu kommen und ex-perimentierte für seinen „Tachismus“ mit Drogen. Im westlichen Kontext ist die Intuition das übersehende Kind oder der „schreibende Kater Murr“. E.T.A. Hoffmann hat mit dieser wunderschönen Geschichte der Intuition ein Denkmal gesetzt und beschrieben was Tier und Mensch verbindet: „Durch das Leben und zum Leben kommt man doch, man weiß selbst nicht wie“. Kater Murr ist überwältigt von diesem Glück und feiert das Nicht-Wissen als „Gefühl des Daseins“. Anders der Mensch. Für Hegel ist das was Kater Murr als „süße Gewohnheit“ preist die „leere Nacht“, die wir überwinden müssen, indem wir uns mit unserer Imagination ein „Vorstellungsbild“ erarbeiten und das mit unserem Intellekt reflektieren. Erst dann nimmt der Mensch sein Licht selbst in die Hand, beginnt für Hegel die „Historie“. Im fernöstlichen Kontext gibt es diese Hierar-chie nicht, dafür aber auch keine „freie Kunst“. In dessen traditionellem Wertesystem wird die Intuition als „natürliche Erleuchtung“ verstanden, mit der alle Menschen geboren werden, die zur „endgültigen Erleuch-tung“, zum „Ausstieg aus dem Kreis der Wiedergeburten“ geführt werden soll, so dass der „reine Geist“ im „Ritual“ vor der Kunst bewahrt wird, die wiederum Kunsthandwerk ist und nicht wie im westlichen Konzept der „freie Geist“. Aus diesen beiden Ausgrenzungen versuche ich „Kater Murr“ zu befreien, indem ich intuitiv überzeugende Bilder male und sie mit einem Mix aus Selbstbefragung, Psychologie, Philosophie und Kunsttheorie untermauere.

Dafür greife ich unter anderen auf Aristoteles zurück, der aus mehreren Gründen für mich spannend ist. Zum einen stammt von ihm der berühmte Satz: „Nichts ist im Verstand, was nicht zuvor in der Sinneswahrneh-mung war“, zum anderen kennt er keine unsterbliche Seele. Für ihn stirbt die Seele mit dem Körper und hinterlässt, was sie als Seele in der Welt verwirklicht hat. Und er geht in seinen Beobachtungen nicht nur davon aus, dass wir Sinne haben die wahrnehmen, er entdeckt auch einen Sinn der wahrnimmt, dass wir wahrnehmen und macht dafür den „Tastsinn“ aus. Alle Sinne haben Medien, Überbringer der Nachricht, das Sehen hat Hell, Dunkel, Farbe, Bewegung, Gestalt, die ihm sagen was es sieht, das Hören hat Geräusch, Klang, Ton, Melodie, Rhythmus, der Geschmack Süß, Sauer, Bitter, Heiß, Kalt, der Geruch Atmosphäre, Bindung und Erinnerung. Allein die Berührung hat keine nur ihr zuzuordnenden Medien, sie tastet sich mit allen Sinnen und in allen Sinnen, nicht nur über die Haut heran, weshalb Aristoteles den Tastsinn auch den „Gemeinsinn“ oder die „Seele“ nennt und keinen weiteren Sinn, eher ein „Kuckucksei“ meint. Und er macht noch eine Entdeckung: Der Tastsinn entdeckt den „Zwischenraum“. Aristoteles behauptet, dass es in jeder echten Berührung zwischen dem Berührten und dem Berührenden ein „Zwischenraum“ existiert, den der äußere Sinn nicht sieht, der nur unter der Haut vom „inneren Sinn“ wahrgenommen werden kann. Durch ihn wissen wir, dass wir wahrnehmen und wir unterscheiden durch ihn das Wahrgenommene von uns.

Mein Bild ist haptischer Natur. Es hat und macht äußerlich keinen Sinn. Es ist weder Landschaft, Portrait, Stillleben, Schriftstück, Abstrakt noch Konzept. Es ist ein beredetes Nichts, das etwas sagt, weil es einen „inneren Sinn“ hat. Eine haptische Spur, mit der das Bild sich an sich selbst herangetastet hat. Diese Spur ist ablesbar, ist nachvollziehbar, sagt etwas, bringt das Bild hervor. Nicht durch mich, durch mich hindurch, indem letztendlich die Betrachtung, ein anderes Medium es zur Sprache bringt. Hier wird das „Gemeinwohl“, von dem Aristoteles spricht, plastisch. Wir teilen uns das Bild, indem jeder mit seiner eigenen Wahrnehmung in ihm seine eigene Welt sieht. Erst hier wird die Weltanschauung tatsächlich Privatsache. Wir tun immer so als sei in der liberalen Demokratie die Anschauung der Welt eine Privatsache und führen dann einen „heili-gen Krieg“ um die richtige. In meinem Bild darf jeder die Welt sehen, die und wie er sie sieht. Eine Welt, die nie fertig ist, immer neue Spiegelungen liefert, die vom inneren Sinn vollendet werden, ohne, auch nicht durch ihn, ein wirkliches Ende zu finden. Denn der Tastsinn berührt das Unfassbare und das ist und bleibt für immer unfassbar. Fassbar wird für uns etwas anderes. Deshalb habe ich die „Suchbilder“, die Detailaufnah-men dazu gestellt, um zwei Erfahrungen zu ermöglichen. Das Unfassbare hat im „intuitiven Informel“ nichts bedrohliches. Es ist kein „horror vacui“, obwohl es ein Nichts ist. Ja, dieses Nichts wünschen wir uns, der Kopf will leer sein, damit die Erkenntnis, der (nach meiner Zählung) „sechste Sinn“, in Ruhe aus seiner Vorstellung einen Gedanken formt. Der Verstand ist mit dem Unfassbaren überfordert, das überlässt er den Sinnen, sein „Wille zur Macht“ verwandelt das Begreifen zum Begriff, zum „Wissen ist Macht“. So projiziert die Reflexion in das Unfassbare ihr „Ding“ hinein, sieht sie einen Wald, ein Paar, ein Tier, Gott…

Der zur Objektivität Aufgeklärte hat dabei ein schlechtes Gewissen, er ist der sinnlichen Wahrnehmung gefolgt, von der er durch die technische Reflexion weiß, dass sie subjektiv ist und ihn täuschen kann. Wir empfinden Temperaturen, die nicht gemessen werden, was für uns groß ist kann objektiv klein sein und trauen deshalb der Reflexion mehr, als der direkten Wahrnehmung. In meinem Fall ist es jedoch umgekehrt, die sinnliche Wahrnehmung sieht eindeutig nur Farbkleckse, aus denen die Reflexion zur Täuschung, zum Wald, Paar, Tier führt. Magritte hat uns das mit einer realistisch gemalten Pfeife vorgeführt, zu der er den Schriftzug ins Bild setzte: Das ist keine Pfeife. Malerei ist ein Spiel mit der Einbildungskraft, so oder so bilden wir uns das Gesehene ein und bilden uns mit ihm die Welt. Wie die abstrakte Buchstabenschrift, die mit den vier Buchstaben H-a-u-s von uns verlangt, dass wir uns das Haus einbilden, denn die gleichen Buchstaben können auch eine Sau mit h sein. So verwandeln sich unbestimmte Zeichen vor unseren Augen in lebendige Gestalten. Was dem Maler jedoch im Gegensatz zum Schriftsteller nur gelingt, wenn er die Kleckse absichtslos ausführt, dann folgen sie dem inneren Sinn. Versucht er ihnen einen äußeren Sinn zu geben, werden sie kontrolliert, konstruiert oder kopiert, sagen sie: „Was will der Künstler uns damit sagen?“. Das Leben ist, wie sagte doch Kater Murr: „man weiß selbst nicht wie“, so kommt es ins Bild…

Der Mensch sieht nicht nur Zeichen, die er selbst gesetzt hat, er sieht auch Zeichen, die er als Mensch nicht bewusst setzen kann und traut diesen fremden Zeichen mehr als den eigenen, weil er von den eigenen weiß wie sie manipuliert werden und von den fremden überwältigt ist. Sie tragen das Mysterium des Unfassbaren in sich, das uns beruhigt, weil es den Menschen vom Größenwahn befreit. Vollbringt der Mensch das Unfassbare beunruhigt uns das, selbst wenn wir davon überzeugt sind, dass es positiv war. Weil nicht sein darf, was nicht sein kann, dass sich ein Lebender über das Leben stellt. So war das „Informel“ eine Reaktion auf zwei Weltkriege und den Holocaust. Der Glaube an die Zeichen der Vernunft, an das Gute im Menschen und eine heile Welt, war brutal zusammengebrochen. Adornos berühmter Satz: „Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch“, wirkte nachhaltig. Das vom Intellekt reflektierte Vorstellungsbild war so grundsätzlich in den Schatten gestellt, dass viele Künstler nicht mehr weiter malen konnten wie bisher und fortan ohne feste Form malten. Für mich war und ist das eine Rückbesinnung auf die Natur des Geistes…

Noch nie wurde über Kater Murr soviel gesprochen wie heute und selten wurde er so falsch verstanden wie jetzt. Wir sprechen ständig über die Intuition, weil sich die digitale Technik weltweit „selbstlernend“ durchsetzt. Dabei erleben wir was Intuition alles kann. Sie beherrscht die kompliziertesten Rechner, kann Autofahren und Kriege führen, wenn sie zur Ausführung eines Programmes verwendet wird. Doch das ist lediglich die kastrierte Form unseres Katers. Kater Murr lehnt es ab ein Mensch zu werden, er hält das Mensch-Sein für überschätzt. Wir sind Mensch geworden und sollten aufhören Kater Murr zu unterschätzen. Das Tier stützt sich auf Instinkte, die hat der Mensch auch und er hat den „inneren Sinn“, der ihn durch sein absichtsloses Tun zur „Vernunft“ bringt. Wir Heutigen nennen das „Bewusstsein“ und meinen damit ein Vorstellungsbild, das uns denken lässt, das wir denken. Dieses „Ich denke, also bin ich“ – das „Ego“ – hat Aristoteles nicht interessiert, er suchte nicht nach einem „äußeren Sinn“, den wir mit einem „kategorischen Imperativ“ einhegen müssen. Er suchte nach dem „man weiß selbst nicht wie“ – dem „von SELBST“

Mit diesem Plädoyer für den (in meiner Zählung) „siebenten Sinn“ möchte ich schließen, denn nur vor dem „man weiß selbst nicht wie“ sind tatsächlich alle Wesen gleich.