DER NOUSLETTER IV

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Der „Nousletter“ ist auch ein „Newsletter“, doch seine „News“ sind „Nous“, altgriechisch: nonverbale Vernunft, geistiges Sehen der sprachlich nicht fassbaren Wahrheit. Im Sanskrit „Tathata“: Die „Soheit“ vor der Wahrheit, das Bewusstsein ohne Objektbezug.


 

„Ich bin Natur!“, hat Jackson Pollock geantwortet, als der etablierte Kunstverstand ihm vorwarf, dass seine Bilder weder nach noch vor der Natur gebildet wurden. Jackson Pollock interessierte die einseitige isolierte Sicht des Verstandes nicht. Sein Instinkt sagte ihm: In der Natur ist die Hand die Akademie, sie bildet den Verstand. Denn ohne das Begreifen der Hand kommt der Mensch nicht auf den Begriff, kann der Verstand nicht begreifen was das Auge visualisiert. So ist der Mensch ein Doppelhirn, in dem über den Darm das Gefühl und über das Gehirn der Verstand zusammen wirken. Das heißt, ein vom Menschen erschaffenes Bild ist ein Subjektobjekt, das zugleich einen Ein- und Ausblick in auf die Welt gibt, in der er lebt. Dergestalt grub die Hand wie ein Gärtner in den USA mit dem Abstrakten Expressionismus und in Europa mit dem Informel die gegenständliche und abstrakte Malerei um. Zurück blieben auf der Leinwand Geste, Borke, Flecken, spontan verwebt zur Textur. „Mit allen Mitteln der Kunst nichts erzählen“, forderte Gerhard Richter. Das kann als Aufforderung zum absichtslosen Tun verstanden werden, dann ist das Bild leer wie ein Spiegel, in dem der Betrachter alles sieht. Denn in der Wirklichkeit existieren Form und Leere nicht getrennt voneinander, sie bedingen einander und erzählen, indem sie miteinander oszillieren zwischen Himmel und Erde ihre existenziellen Geschichten.

Doch Richters Mantra kann auch intellektuell als kategorischer Imperativ verstanden werden, dann ist das Bild lediglich abstrakt und der Himmel berührt nicht die Erde. So haben der Abstrakte Expressionismus und das Informel das Bild von Gegenstand und Konzept befreit und mit der Dynamik des Malprozesses ein „von Selbst“ ein offenes Bild erschaffen. Sie erlebten im Atelier die Herrschaftsfreiheit und konnten sie dennoch nicht nach außen tragen. Denn das informelle abstrakte Denken ist noch in der Dekonstruktion von Form und Konzept gefangen. Es wird noch von der unsichtbaren Hand der Festlegung der „Macht des Niemand“ (Hannah Arendt) beherrscht. So wurde der Schritt von der Festlegung und Kontrolle durch den gemeinen Verstand in das Offene und Weite der reinen Vernunft noch nicht gewagt. So blieb es bei einer Kunst, die sagt, was sie nicht will und noch nicht „das Nichtwollen wollen“ (Heidegger) will. Derart blieb es bei einem Bild vor oder nach der Natur und verstand das Bild sich nicht als natürliche Intelligenz.

Inzwischen ist fast ein Jahrhundert vergangen und die Neue Welt der USA hat den Neuen Menschen der UdSSR besiegt und mit der Globalisierung des digitalen Kapitalismus das Ende der Geschichte gefeiert. Doch statt der allumfassenden globalen Freiheit einer aufgeklärten liberalen Demokratie, die den Menschen als Menschheit anstelle des Selbst denkt, ist der Mensch heute allumfassend mit Endzeitfragen konfrontiert. Denn die weltweite „CO2-Befreiungsfront“ (McKenzie Wark) hat weder Nationen, Klassen, Rassen, Frauen, Kinder einzig und allein Milliardäre, Menschen, die mit dem Profit Milliarden beherrschen, befreit. So stellt die Ökologie heute die Ökonomie infrage und der Mensch muss sich von einer narzisstischen Kränkung * zur anderen eingestehen, dass sein Wissen lediglich Expertenwissen, Halbwissen und kein Allwissen ist. Denn zwei Drittel seiner Zeit verbringt der Mensch unbewusst. Derartig prädestiniert ist der Versuch vergeblich, mit einem als Wahrheit erkannten Drittel die Soheit des Ganzen zu beherrschen. So wird das Sosein in der Soheit – „Um sein Nichtwissen wissen ist das Höchste“ (Laotse) – zur Alternative. Auf diese Art erkennen wir im Dasein mit Objektbezug die ökonomische Wahrheit – „wo das Wasserloch ist, ist für das Wirbeltiergehirn die Wahrheit“ (Richard Darvid Precht) – und im Sosein ohne Objektbezug die ökologische Wirklichkeit. So irren wir voran. Denn die Macht des Wissens ist das Nichtwissen. Unser Nichtwissen ist das Allwissen und wir sind alle durch das Unbewusste ein Teil von ihm. Ein Teil kann aber weder das Ganze wissen noch sein.

Medizinisch ist das Lebewesen bei Bewusstsein, wenn es unbewusst wahrnimmt und reagiert. Weder ein Wachbewusstsein noch ein kognitives Bewusstsein setzt die Medizin voraus. Auf dieser niederschwelligen Ebene haben auch Bäume ein Bewusstsein. Sie nehmen, obwohl sie weder Nerven noch ein Gehirn haben, wahr und reagieren. Dem nonverbalen Bewusstsein und damit der Intersubjektivität des Lebens Öffentlichkeit zu geben ist Aufgabe von Kunst. Ganz unerwartet erwacht dabei auch die Malerei zu neuer Blüte, zeigt sich, dass Schönheit nicht nur schön politisch ist. 

Von den Bäumen lernen heißt siegen lernen.

 

*Die erste narzisstische Kränkung war die kopernikanische Wende: Die Erde dreht sich um die Sonne und ist nicht der Mittelpunkt des Universums. Die zweite war Darwins Evolutionstheorie: Der Mensch stammt nicht von Gott, vom Affen ab. Die dritte schrieb der Entdecker der narzisstischen Kränkung, Sigmund Freud, sich selbst ins Stammbuch: Die Erforschung des Unbewussten beweist, dass der Mensch noch nicht einmal Herr im eigenen Haus ist. Und die vierte narzisstische Kränkung ist der „Skandal der Vernunft“ (Kant). Die praktische Vernunft führt nicht zur reinen Vernunft. Sie zerstört die Grundlagen des menschlichen Seins, indem der Mensch sich mit ihr für unsterblich hält.

 

Mehr lesen: Nousletter III (Der Tanz der Freiheit)